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Dr. Olaf Kapella im Gespräch mit Johannes Unosson der Evangelischen Allianz Wien.
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Olaf Kapellas Forschungsinteresse gilt besonders der strategischen Familienforschung im internationalen Kontext, Gewaltforschung, Männerforschung und der Entwicklung von umfassenden Modellen der Sexualerziehung. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitet Olaf Kapella auch in der sexualpädagogischen Praxis sexualpädagogisch mit Kindern, Jugendlichen und Eltern und ist als Berater in einer geförderten Familienberatungsstelle tätig.

Das Interview wurde geführt von Johannes Unosson von der Evangelischen Allianz Wien. Der Text stellt eine Zusammenfassung eines Interviews von zwei Stunden mit Olaf Kapella dar, weshalb die Inhalte somit nur verkürzt dargestellt werden können. Die Hervorhebungen im Text stammen vom Herrn  Unosson.

Unosson: Herr Dr. Kapella, Sie haben die 2011 veröffentlichten WHO-Standards zur Sexualpädagogik mitentwickelt, zu denen ich Ihnen einige Fragen stellen möchten.
In der Evangelischen Allianz haben wir den Wunsch, das Thema Sexualpädagogik besser zu verstehen, besonders wenn es zu einem Konflikt kommt zwischen dem kommt, was Eltern den Kindern für ein Leben im Glück mitgeben möchten und dem was die moderne Sexualpädagogik sagt bzw. nicht sagt. Ich hoffe, dass Sie uns mit ihren Antworten eine bessere Sicht geben können, ob es hier einen Zielkonflikt gibt, und wenn dem so ist, wie dieser gelöst werden kann.

Kapella: Ich kenne die Evangelische Allianz. Ich bin selbst evangelisch und habe mich im Rahmen der Evangelischen Allianz viele Jahre in der Jugendarbeit engagiert und Seelsorge gemacht. Mir ist der Hintergrund von dem Sie kommen also bekannt- aus persönlichen und aus beruflichen Erfahrungen. Ich weiß, dass die Evangelische Allianz eine Dachorganisation ist und viele Kirchen und Gemeinden vertritt, mit unterschiedlichen Anschauungen. Ich kenne sie zum einen aus meiner beruflicher Perspektive, da vor allem fundamentalistischere Kreise die Arbeit der Sexualpädagogik häufig kritisch sehen. Auf der anderen Seite verbinde ich viel positive Erfahrungen mit Menschen in der Allianz und ihr Engagement für Andere.

Beziehung, Sexualität & Glück

Unosson: Ich habe vor kurzem im Standard ein Interview mit Christa Appelt, Geschäftsführerin von Internationale Partnervermittlung GmbH, gelesen. Sie sagte:
"Nie beim ersten Date gemeinsam ins Bett! … Die meisten von denen, eigentlich fast alle, die es taten, sind nie ein Paar geworden. Raten Sie mal, warum es noch nie so viele Singles wie heute gab. Es fühlt sich an wie eine Wegwerfgesellschaft. Das macht mir Sorgen.“ Meine Frage an Sie: Wann ist Sex beziehungsfördernd und wann macht Sex Beziehungen kaputt?

Kapella: Sexualpädagogik kennt ganz viele Hintergründe und Zugangsweisen. Mein Zugang zur Sexualpädagogik sowie zur Sexualberatung ist stark durch Kurt Loewit, einem Sexualmediziner, geprägt. Loewit und andere Sexualmediziner haben einen Ansatz entwickelt, der den Beziehungsaspekt der Sexualität in den Vordergrund stellt. Sexualität, vor allem die genitale Sexualität, wird dabei als eine Form der Kommunikation zwischen Menschen verstanden, bei der Menschen sich über ihre Grundbedürfnisse austauschen. Es geht bei der genitalen Sexualität also nicht nur darum miteinander Sex zu haben, sondern diese körperliche Begegnung dient auch dazu menschliche Grundbedürfnisse, wie z. B. Nähe, Geborgenheit, Offenheit, Verlässlichkeit auszutauschen und um die Befriedigung dieser Bedürfnisse. Daher sind für mich zentrale Fragen z.B.: Wann ist denn für mich ein guter Zeitpunkt, wo ich Intimität mit anderen Menschen leben möchte? Ist diese Beziehung jetzt so gestaltet, dass es mir gut tut, wenn ich einen Schritt weiter gehe und intim werde? Haben wir eine gemeinsame Basis der Kommunikation? Fühle ich mich sicher? Das sind genau jene Aspekte, die in der Sexualpädagogik wichtig sind, d.h. Jugendlichen ein Sensorium zu geben, sich diese Fragen zu stellen, in sich hineinzuhorchen und sie für sich selbst zu beantworten. Diese Fragen müssen Jugendliche vor dem Hintergrund ihrer eigenen persönlichen Werte und Vorstellungen treffen. Da geht es aus pädagogischer Sicht weniger um richtig oder falsch, sondern darum, Jugendlichen zu helfen, für sich selbst eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen. Da geht es immer um Fragen, wie z.B.: Wie muss eine Beziehung gestaltet sein? Wieviel Vertrauen, wieviel Nähe, welches Maß an Offenheit brauche ich, um mich auch körperlich Jemandem zu öffnen? Ob das jetzt bei einem Zungenkuss oder bei genitaler Sexualität ist. Da passiert einerseits ganz viel an gegenseitigem Vertrauen, auf der anderen Seite kann auch viel kaputt gehen. Wenn ich zu schnell alles von mir hergebe, kann es natürlich sein, dass mir das nicht gut tut. Wenn ich nicht überlegt vorgehe, kann es passieren, dass ich mich auf eine Beziehung einlasse, die nicht gut für mich ist.

Unosson: Sie haben gesagt „Die Beziehung muss passen“. Was heißt das? Welche Rolle spielt hier die Liebe?

Kapella: Die Beziehung muss in der Art und Weise passen, dass wichtige Bedürfnisse erfüllt sind und die Beziehung von beiden Seiten positiv erlebt wird, also für mich oder die andere Person nicht destruktiv ist. Auch wenn wir ein Extrembeispiel nehmen, z.B. einen One-Night-Stand, auch hier muss es ein Kontakt sein, wo ich Jemandem vertraue, mich öffnen mag und mich auch sicher fühle – es muss also eine gewisse Art von Grundvertrauen da sein. In Beziehung zu sein heißt für mich nicht per se, dass es sich um eine langfristige, auf Dauer angelegte Beziehung handeln muss. In der sozialwissenschaftlichen Forschung gehen wir z.B. verstärkt dazu über Menschen zu fragen, ob es sich bei ihrer Beziehung um eine verbindliche oder unverbindliche Beziehung handelt. Auch in den Familienwissenschaften sprechen wir seit vielen Jahrzehnten mittlerweile davon, dass sich die Sicht auf Ehe verändert hat: Ehe ist von einem Projekt auf Lebenszeit zu einem Projekt auf Zeit geworden. Das ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die vor keiner Bevölkerungsgruppe Halt macht. In der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs hat sich eine Art von Mythos etabliert, den wir in den Familienwissenschaften auch das „Goldene Zeitalter der Eheschließung“ bezeichnen. Gründe zu Heiraten bzw. die Möglichkeit überhaupt heiraten zu können, war in der Vergangenheit ganz unterschiedlich ausgestaltet. Für viele Teile der Bevölkerung haben in Europa lange Zeit Heiratsverbote existiert.
Zum Bereich Beziehung und Liebe gibt es viele Auffassungen und Wertvorstellungen. Mir ist es wichtig, dass Jugendlichen die Chance gegeben wird, sich mit der Pluralität von Werten, Vorstellungen, etc. in diesem Bereich auseinandersetzen zu können. In der schulischen Praxis gibt es ein sogenanntes Indoktrinationsverbot. Es ist etwas sehr Zentrales. Es geht darum, wenn ich junge Menschen in ihrer Entwicklung unterstütze, ihnen unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven anzubieten. Junge Menschen sollen in die Lage versetzt werden, ihre eigene Meinung, ihre eigenen Werte aufzubauen und umzusetzen und ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Unosson: Sie sprechen von der Ehe, aber in den WHO-Standards wird die lebenslange Beziehung in einer Ehe nicht als ein positiver Wert vermittelt!? Warum nicht?

Kapella: Menschen leben in ganz unterschiedlichen Beziehungsformen. Allein über die Lebensspanne eines Menschen wechseln sich verschiedene Lebens- und Beziehungsformen ab. Die Ehe ist eine mögliche Form von Beziehung. Insofern gibt es in den WHO-Standards auch keine Priorisierung der Ehe.

Unosson:  Aber, dass eine lebenslange Beziehung zu zweit, ein guter positiver Wert ist, sollte man das nicht vermitteln? Kann man das nicht vermitteln?

Kapella: Natürlich vermitteln wir auch in der Sexualpädagogik, dass Menschen sich eine langfristige oder auf Dauer angelegte Beziehung wünschen. Die Bezeichnung „lebenslange“ finde ich in unserer Kultur sehr mit dem christlichen Wert verbunden, „bis dass der Tod uns scheidet“. Ich persönlich spreche lieber von auf Dauer oder langfristig angelegten Beziehungen. Ich habe in meinen Paarberatungen zu viele Menschen gesehen, die sich einen großen Teil ihres Lebens gegenseitig in Beziehungen kaputt gemacht haben, mit dem Gefühl „Wir dürfen uns nicht trennen“. Das ist für Menschen eine destruktive Situation. Ich habe in der Beratung und in der Seelsorge Beziehungen und Situationen erlebt, wo es z. B. zur massiver Gewaltausübung, sowohl körperlich als auch psychisch, kommt, aber den Paaren vermittelt wird: Ihr dürft euch nicht trennen. Das ist destruktiv für die eigene Entwicklung und für das eigene Leben und aus meiner Sicht muss hier eine Bewilligung gegeben werden, dass ich mich aus destruktiven Beziehungen befreien, lösen oder diese verändern kann, wenn Beide mitmachen. Also deswegen tue ich mich mit diesem Wert „ein Leben lang“ schwer, aber natürlich vermitteln wir in der Sexualpädagogik auch, wie sich der Wunsch nach einer stabilen, lang andauernden Partnerschaft verwirklichen lässt. Die Fragen, wie man eine Partnerschaft aufrechterhält und was Beziehungen stabil macht – das sind zentrale Themen in der Paar-Forschung in der Psychologie und natürlich auch in der Sexualpädagogik. Und das sind natürlich auch genau die Inhalte, die jungen Menschen vermittelt werden sollen. Aber das Ziel, dass es „lebenslang“ sein muss, ist ein Anspruch, den ich persönlich so jetzt nicht formulieren würde. Der Wunsch und das Streben danach, sind absolut nachvollziehbar.

Pornografie

Unosson: Wie wirkt sich Pornografie auf die Sexualität von Jugendlichen aus, sowie auf deren Geschlechterrollen und die Beziehungsfähigkeit? Ich frage auch, weil ich denke Pornografie ist ein Beispiel dafür, wie man Sexualität ohne Liebe jetzt praktiziert. Wie wirkt sich das auf die Jugendlichen aus?

Kapella: Also zuerst einmal muss ich sagen, ich weiß nicht, ob Pornografie immer ohne Liebe dargestellt ist. Das ist schon  eine eindeutige Bewertung und ich weiß nicht, ob ich da uneingeschränkt zustimmen würde. Aber Sie haben natürlich recht, Pornografie wirkt sich auf die eigenen Vorstellungen über Sexualität aus und zwar nicht nur bei Jugendlichen. Aus der Forschung wissen wir z.B., dass Volksschulkinder Pornografie, wenn sie damit in Kontakt kommen, als Gewalt interpretieren. Für Jugendliche und für Erwachsene gilt, dass durch Pornografie Skripte und Vorstellungen entstehen, die häufig mit der Realität im eigenen Leben wenig bis nichts zu tun haben. Es werden Bilder und Skripte über Frauen, über Männer und über deren Sexualität vermittelt, die so nicht stimmen. Hier ist mir wichtig zu betonen, dass dies nicht nur auf Jugendliche und junge Menschen zutrifft, sondern auch auf erwachsene Menschen. Kindern und Jugendlichen ist es deutlich zu machen, dass Pornografie Medien sind, die bewusst für einen bestimmten Zweck hergestellt und manipuliert sind und wenig mit der Realität von Menschen in ihrer Sexualität zu tun hat. Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass Pornografie eine informative Seite hat. Sie zeigt den menschlichen Körper und sexuelle Verhaltensweisen und hat bis zu einem gewissen Grad auch zur Enttabuisierung sexueller Vorstellungen und Wünsche beigetragen. In Bezug auf Jugendliche wissen wir, dass fast alle Jugendlichen Zugang zum Internet haben und darüber Zugang zu Pornografie haben. Diese Tatsache nur totzuschweigen ist kein pädagogisches Konzept. Es geht darum aufzuarbeiten, was Jugendliche sehen und konsumieren und präventiv falschen Skripten, Vorstellungen, etc. entgegenzuwirken. Welche falschen Bilder und Skripte entstehen und wie sieht die Realität aus? Welche Risiken bestehen, Skripte in das eigene Leben zu übernehmen, die nicht real sind? In der Auseinandersetzung mit jungen Menschen sind alle dahingehend gefordert, Jugendliche darin zu unterstützen, eine realistische Sicht auf Sexualität zu entwickeln.

Unosson: Pornografie kann zu einer starken Abhängigkeit führen. Sehen Sie das als ein Problem?

Kapella: Wenn Verhaltensweisen zur Sucht werden, hat es natürlich für den Betroffenen immer eine Problematik, weil ich dann nicht mehr frei agieren kann, sondern unter einem gewissen Zwang handle. Für die Person selbst und die Mitbetroffenen ist das natürlich nachteilig.

Unosson: Das Ziel ist es also, diese Medienkompetenz zu erwerben, wie man mit Pornografie umgehen soll. Soll im Unterricht vor Pornografie gewarnt werden? Oder soll oder darf man das sogar zur Veranschaulichung nutzen im Unterricht?

Kapella: Nein! Sie dürfen Pornografie mit minderjährigen Kindern im Unterricht natürlich nicht nutzen. Es ist vollkommen klar, dass Pornografie weder von Lehrer*innen im Unterricht noch in der Sexualpädagogik als Anschauungsmaterial eingesetzt wird. Das ist ein klassisches No-Go. Aber es wäre sehr naiv zu glauben, dass Jugendliche keinen Zugang zu pornografischen Darstellungen haben. Also wird Pornografie im Rahmen der Sexualpädagogik auch thematisiert.

Sexualunterricht & kultureller Kontext der Familien

Unosson: In den Klassenzimmern sind Kinder aus verschiedenen Kulturen und religiösen Hintergründen mit unterschiedlichen Sichtweisen auf Sexualität. Wie kann man diese kulturellen und sozialen Gegebenheiten im Unterricht berücksichtigen? Wie kann man sicherstellen, dass man die Kinder dabei nicht überfordert?

Kapella: Indem ich diese Lebenswelten und diese Unterschiedlichkeit thematisiere und Kindern helfe, diese zu verstehen. Also es geht darum, die Komplexität unserer Lebensrealität vor unserem gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund, vor unserem gesetzlichen Rahmen zu diskutieren und zu reflektieren: Was heißt Zwangsehe? Was heißt Liebesheirat? Was heißt es „Ich warte, bis ich verheiratet bin“? Was heißt Abstinenz bis in die Ehe? Natürlich geht es pädagogisch darum, diese Konzepte möglichst wertfrei zu diskutieren. Allerdings ist mir bewusst, dass nichts ganz wertfrei ist. Es ist eine Illusion. Im Rahmen der Sexualpädagogik sowie in der Schule bin ich natürlich gebunden an das Indoktrinationsverbot und das Pluralitätsgebot. Das heißt, ich zeige gleichberechtigt, dass es unterschiedliche Werthaltungen gibt. Wenn ich mit der Werthaltung reingehe „Du musst unbedingt Sex mit 14 haben“, ist es genauso eine Indoktrination, wie wenn ich versuche, Jugendlichen zu sagen „Du darfst vor der Ehe keinen Sex haben“. Beides aus meiner Sicht abzulehnen. Es geht darum Kinder und Jugendliche die Pluralität alters- und entwicklungsgerecht darzulegen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen und sie in ihrer Entwicklung und bei der Ausbildung einer eigenen Meinung zu unterstützten.

Unosson: In den WHO-Standards steht, dass die Kinder eine „kritische Haltung zu unterschiedlichen Kulturen und religiösen Normen in Bezug auf Schwangerschaft, Elternschaft“ und so weiter vermittelt werden sollen. Wenn wertfrei, warum soll es dann eine kritische Haltung sein?

Kapella: Es geht um ein kritisches Reflektieren. Also es geht immer darum, Kinder zu befähigen Werte, Normen etc. kritisch zu hinterfragen. Also das ist eine Formulierung, wo wir deutlich machen möchten, dass Kinder dazu befähigt werden sollen, bestehende Normen und, Werte auch zu hinterfragen. Wobei ich anmerken möchte, dass der Begriff eine „kritische Haltung“ nicht nur bei den von Ihnen in Ihrer Frage angesprochenen Themen verwendet wird. Dinge kritisch zu hinterfragen, zieht sich durch die gesamten Standards, bei ganz unterschiedlichen Themen. Bei diesem Ziel geht es um die Ermutigung, sich kritisch mit Themen auseinanderzusetzen.

Unosson: Ich gebe Ihnen recht, dass es wichtig ist, dass Kinder lernen kritisch zu denken. Weil, genauso wie es die Angst vor religiösen Indoktrination gibt, gibt es die Angst, dass Kinder von anderen ideologischen Richtungen indoktriniert werden.

Kapella: Die Angst verstehe ich gut. Aus meiner Sicht ist jede Form der Indoktrination in der Sexualpädagogik zu unterlassen. Ich unterscheide nicht, ob es sich um eine „religiöse“ oder „liberale“ Indoktrination handelt. Im Sinne einer qualitätsvollen Sexualpädagogik sind Versuche einer Indoktrination zu unterlassen. In den sexualpädagogischen Ausbildungen in die ich involviert bin, ist das ein wichtiges Thema. Keine Qualitätssicherung ist hundertprozentig, aber ich würde mich für Österreich schon sagen trauen, dass es in der österreichischen sexualpädagogischen Landschaft keine Indoktrination von Seiten der Sexualpädagogik gibt. Natürlich werden im Rahmen von sexualpädagogischen Projekten auch immer wieder Interessensvertretungen eingeladen, die ihre persönliche Sicht einbringen. Das finde ich auch legitim. In meiner sexualpädagogischen Praxis war es uns bei der Planung von sexualpädagogischen Projekten immer wichtig, alle Dialoggruppen einzubeziehen: Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte. Gemeinsam haben wir versucht, in den Schulprojekten unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen. Wenn z.B. der Wunsch war, das Thema Schwangerschaftsabbruch anzusprechen, haben wir versucht, Jugendlichen im Rahmen des schulischen Projektes die Sichtweise z.B. von Aktion Leben und die Sichtweise von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen näher zu bringen. Also wo man wirklich versucht, beide Sichtweisen darzulegen und nicht für eine Sichtweise zu werben und keine Info-Veranstaltung für oder gegen eine bestimmte Sache zu machen. Ich Glaube, dass diese Haltung in der Sexualpädagogik in Österreich vorherrscht. Natürlich bedeutet es nicht, dass es nicht die eine oder andere Erfahrung gibt, die das nicht bestätigen kann. Aber ich glaube nicht, dass wir diesbezüglich ein strukturelles Problem in Österreich haben.

Unosson: Wenn ich die WHO-Standards lese bekomme ich das Gefühl, dass sich hier um eine Indoktrination für die Sexualität der Vielfalt handelt, die aus meiner Sicht weder der Gesellschaft noch den Kindern gut tut. Jeder muss sein Geschlecht und seine Sexualität selbst herausfinden. Vielleicht braucht das Kind das gar nicht! Verstehen Sie die Sorge von Eltern, dass ihre Kinder in eine falsche Richtung beeinflusst werden könnten?

Kapella: Für die Sorge von Eltern habe ich immer Verständnis. Ein zentraler pädagogischer Ansatz in der Sexualpädagogik ist, alters- und entwicklungsgerecht mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Das Thema der Vielfalt in den Lebens- und Beziehungsformen, dem Verständnis des eigenen Geschlechts, etc. wird ja nicht in allen Altersgruppen gleich behandelt und forciert. Pädagogisch ist es aber wichtig, alle Kinder und Jugendlichen im Blick zu haben. Alle Kinder und Jugendliche sollen sich angesprochen und akzeptiert fühlen. Ich glaube nicht, dass durch das Aufzeigen, dass es z.B. Kinder und Jugendliche gibt, die sich nicht klar als Mädchen oder Bursche einordnen, dazu führt, dass andere Kinder geschädigt werden. Aber z.B. dieses eine Kind fühlt sich angesprochen und angenommen. Allerdings sollte ein Kind reagieren, weil das Gehörte das Kind beschäftigt, muss dieses Kind selbstverständlich weiter unterstützt werden, z.B. durch die Nachbereitung in der Schule, durch Eltern oder auch durch Sexualpädagog*innen. Zudem muss ich hier anmerken, dass die Anerkennung der Diversität sowie das Verbot der Diskriminierung z.B. in Bezug auf die sexuelle Orientierung und auf das Geschlecht sowohl in den internationalen Menschenrechten als auch in der UN-Kinderrechtskonvention festgehalten ist. Teile der Kinderrechtskonvention haben in Österreich sogar Verfassungsrang. Sie sprechen genau diese Diversität an und die Staaten haben sich verpflichtet, diese Diversität für alle Bürger*innen, für Kinder und Jugendliche sicherzustellen.

Unosson: Wie können und wie sollen Eltern die Sexualerziehung beeinflussen? Oder sollen sie das gar nicht?

Kapella: Natürlich werden und sollen Eltern die Sexualerziehung ihrer Kinder beeinflussen, das steht ja außer Frage. Eltern sollen ihren Kindern und Jugendlichen ihre Haltung erklären und mit ihnen darüber sprechen. Problematisch finde ich, wenn Eltern versuchen zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche andere Perspektiven hören und sich damit auseinandersetzen können. Kinder kommen ja mit unterschiedlichen Eindrücken nach Hause. Wenn ein Kind zu Hause äußert, dass es vegetarisch leben möchte und ab jetzt bitte nur noch bestimmte Sachen gekauft werden sollen, muss sich die Familie jetzt damit auseinander setzen. Wenn ein Kind nach Hause kommt und sagt, wir haben diskutiert im Rahmen des Sexualkundeunterrichts, dass nicht alle mit Sex bis zur Ehe warten möchten, kann man das genauso als Thema in der Familie diskutieren und unterschiedliche Sichtweisen austauschen. Es ist eine Möglichkeit mit dem Kind ins Gespräch zu kommen, um unsere Basis z.B. in unserem Glauben oder in unserer Familie zu erklären. Wenn Eltern versuchen, ihr Kind hermetisch abzuriegeln, werde ich skeptisch. In diesen Situationen komme ich zu meinen Wurzeln als Sozialarbeiter zurück und mache mir Gedanken, ob das Kind gefährdet ist. Eltern sollen ihre Haltungen, Meinungen, Werte, etc. nicht hinunterschlucken. Aber sie müssen es auch aushalten, dass Kinder und Jugendliche sich in einem geschützten Rahmen mit anderen Sichtweisen und Perspektiven auseinandersetzen. Aufgabe einer qualitativen Sexualpädagogik ist es, Kindern und Jugendlichen, aber auch Eltern einen solch geschützten Rahmen zu bieten.

Unosson: Sie haben ja vorher gesagt, dass man sich in Dialoggruppen zusammensetzt. Gibt es diese Möglichkeit?

Kapella: Natürlich haben Eltern die Möglichkeit zu sagen wir wollen dazu einen Informationsabend an der Schule haben. Wir möchten bevor ein Sexualerziehung Projekt kommt, dass die Fachkräfte uns erklären, was gemacht wird und welche Informationen Kinder erhalten? Ich glaube, dass durch das gegenseitige Kennenlernen auch viele Ängste und Befürchtungen abgebaut werden können.

Sexualunterricht Kinder- und Altersgerecht

Unosson: „Es soll Raum und Lernmöglichkeiten geschaffen werden, damit Kinder ihre eigenen Erfahrungen in einer sicheren und anregenden Umgebung sammeln können“. Was heißt das „sichere und anregende Umgebungen“? Wie kann man solche Erfahrungen in der Schule sammeln?

Kapella:  In der Sexualpädagogik stehen je nach Alter der Kinder unterschiedliche Aspekte im Vordergrund. Im Kindergarten geht es z.B. sehr darum Kinder zu unterstützen herauszufinden, wo ihre persönlichen Grenzen sind. Wo darf mich wer berühren? Welche Geheimnisse sind gut und welche Geheimnisse belasten mich? Wem kann ich mich anvertrauen? Es gibt da z.B. Übungen, wo Kinder sich auf ein großes Papier liegen und ihre Körperumrisse abmalen. Kinder kennzeichnen farblich, wo am Körper sie wer berühren darf. Wo darf mich die Mama berühren? Wo darf die Pädagogin mich berühren? Oder es wird versucht, die unterschiedlichen Sinne und Wahrnehmungen zu fördern und zu schulen. All das soll auf eine spielerischen Art und Weise und in einer sicheren Umgebung erfolgen. Kinder lernen sich abzugrenzen, ihre Bedürfnisse zu äußern, Grenzen anderer zu respektieren und zu achten.

Unosson: Wie kann man verhindern, dass Schamgrenzen der Kinder im Unterricht verletzt werden?

Kapella: Naja, das ist eine Frage der sensiblen und altersgerechten Vorgehensweise. Aber das Problem stellt sich pädagogisch bei vielen Themen, vor allem wenn sie interaktiv mit Kindern arbeiten.  Jedes Kind ist individuell und es ist heutzutage das Gebot der Stunde, dass sie Kinder mit unterschiedlichem Entwicklungsstand und mit unterschiedlichem Erfahrungshintergrund in einer Klasse haben. Und das ist natürlich eine Frage der qualitativen, sexualpädagogischen Ausbildung und Vorgehensweise, Kinder nicht zu überfordern.  Wenn sie mit 25 Kindern arbeiten, werden sie Kinder in der Klasse haben, denen das nichts sagt und denen das auch vollkommen egal ist. Ein anderes Kind reagiert vielleicht auf das Gesagte, weil es Vorerfahrungen hat und hört deswegen besonders aufmerksam zu. Dann haben sie auch eine hohe Chance ein Kind in der Klasse zu haben, das bereits Erfahrungen z.B. mit Gewalt in der Familie hat, durchaus auch mit sexueller Gewalt. Also allein aus diesem Grund ist es uns schon sehr wichtig, in der Ausbildung darauf zu schauen, dass die eingesetzten Methoden die Kinder nicht überfordern und einen sicheren und offenen Rahmen zu schaffen. Kinder sind individuell unterschiedlich und sie arbeiten immer mit einer ganzen Gruppe von Kinder, deswegen ist ein sensibles, alters- und entwicklungsgerechtes Vorgehen notwendig.

Unosson: Im Alter von 9-12 Jahren sollen die Kinder lernen „zukünftig wirksam Kondome und andere Verhütungsmittel anzuwenden“. Im Alter von 12-15 Jahren sollen die Kinder folgende Fähigkeiten lernen „Verhandlungs- und Kommunikationskompetenz für ein sicheres und lustvolles Sexualleben entwickeln, unangenehme oder unsichere Sexualkontakte ablehnen oder beenden, Kondome und Verhütungsmittel wirksam anwenden“. Wäre es nicht besser, die Kinder zwischen 12-15 Jahren zu ermutigen mit Sexualität noch zu warten? Z.B. bis sie die Reife für eine Beziehung haben und sogar die Reife haben, selbst Eltern zu werden?

Kapella: Nur weil Themen angesprochen und Informationen vermittelt werden, heißt das ja nicht, dass Jugendliche ermutigt werden Sex zu praktizieren. In den WHO-Standards haben wir natürlich die Situation, dass wir diese für ganz unterschiedliche Länder geschrieben haben. Wir wissen z.B. aus vielen Studien das Abstinence-Only-Programme nicht sehr wirkungsvoll sind. Amerika hat z.B. eine deutlich höhere Rate an Teenager Schwangerschaften als z.B. Deutschland oder Österreich. Auf der anderen Seite zeigt eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Deutschland, die seit über 30 Jahren regelmäßig durchgeführt wird, dass sich das Alter, in dem Jugendliche das erste Mal genitale Sexualität haben, altersmäßig nicht nach vorne verschoben hat. Hier sehen wir also einen starken Beleg dafür, dass sexualpädagogische Themen, wie in den Standards angesprochen, nicht dazu führen, dass Jugendliche früher Sex haben. Es geht hier um den präventiven Gedanken: Wir wissen: Verbote schützen Kinder und Jugendliche nicht. Es geht darum, Jugendlichen Information anzubieten, wenn es doch dazu kommt - damit sie wissen, wie sie sich selbst und andere schützen können. Schützen vor sexuell übertragbaren Krankheiten, sexueller Gewalt oder auch einer ungeplanten Schwangerschaft. Wie bereits vorhin erwähnt, lernen wir alle durch das Wiederholen, also ist es wichtig, durch eine sich wiederholende altersgerechte und entwicklungsgerechte Information Jugendliche zu befähigen, sich selbst zu schützen.

Unosson: Aber glauben Sie nicht, dass es gesünder für Kinder ist, eine gewisse Reife zu haben, bevor sie Sexualität haben? Sexualität hängt ja auch mit Verantwortung zusammen und Kinder mit 13 sind nicht immer so verantwortungsvoll.

Kapella: Ja, ohne Frage. Aber das thematisieren wir ja auch in der Sexualpädagogik. Deswegen sage ich ja, dass es wichtig ist, mit Kindern und Jugendlichen ihre Grenzen und ihre eigenen Wünsche zu reflektieren und sie darin zu unterstützen, nur Schritte zu setzen, wenn sie selbst dazu bereit sind und es möchten. Ich möchte an dieser Stelle auch betonen, dass Sie im Interview primär Themen der Sexualpädagogik aufgreifen, die für mich stark mit einem präventiven Fokus und einem Schutzaspekt verbunden sind. Wie mehrfach beschrieben, geht es in der Sexualpädagogik darum, Kindern und Jugendlichen einen positiven Zugang und Umgang mit sich selbst, ihrem Körper, ihren Gefühlen und ihrer Sexualität zu vermitteln und sie zu empowern. Ein zentraler anderer Aspekt ist darüberhinaus der präventive, bei dem es darum geht, Kindern und Jugendlichen Handwerkszeug in die Hand zu geben, um sich selbst und Andere zu schützen. Der Aspekt, dass Sexualität ungeplante Folgen haben kann, ist natürlich bei Jugendlichen ein zentrales Thema und wird in der sexualpädagogischen Arbeit thematisiert. Aber selbstverständlich auch die Aufklärung darüber, wie Jugendliche sich z. B. vor sexuellen Übergriffen, ungeplanter Schwangerschaft schützen können und wo sie Hilfe und Unterstützung bekommen. Es ist pädagogisch sinnvoll diese Themen und Aspekte in unterschiedlichen Altersgruppen immer wieder aufzugreifen, zu thematisieren und zu vertiefen. Wir wissen, dass Kinder und Jugendliche Gewalt, auch sexuelle Gewalt primär in der Familie erleben, aber auch an anderen Orten, in denen Kinder eigentlich sicher sein sollten, wie z.B. Kirchen, Jugendgruppen oder auch in der Schule. Darum spielt der präventive Gedanke in der Sexualpädagogik für uns in den Standards eine zentrale Rolle – Kinder und Jugendliche zu schützen und zu stärken.

Ich habe so ein bisschen das Gefühl, Sie unterstellen oder befürchten, dass Sexualpädagog*innen missionarisch unterwegs sind und Jugendliche dazu ermutigen möchten, möglichst früh Sex zu haben. Nein, das sind wir nicht und das ist nicht das Anliegen der Sexualpädagogik. Wie gesagt, es geht um den präventiven Aspekt und den Schutzaspekt. Zudem sind die Altersangaben in den Standards keine Altersempfehlung, sondern ein Richtwert, wonach diese Themen alters- und entwicklungsgerecht angesprochen werden können. Natürlich ist es nicht empfehlenswert, dass ein 13-jähriges Mädchen schwanger wird. Deswegen machen wir unsere Arbeit ja, damit es eben nicht dazu kommt, dass eine 13-Jährige überfordert ist. Sie soll wissen, dass sie z.B. nicht um ihren Freund zu halten, Sex mit ihm haben muss, wenn das für sie nicht passt. Oder sie soll wissen, wie Jugendliche sich vor einer ungeplanten Schwangerschaft oder vor ungewolltem Sex schützen können. Die Augen einfach zu zumachen und davon auszugehen, dass Jugendliche keinen Sex haben, stellt für mich keinen guten pädagogischen Umgang dar.

Unosson: Ein Thema, das auch für viele sehr provokativ klingt, ist diese Zielsetzung: „Sexualerziehung beginnt mit der Geburt“. Diese Zielsetzung kann außerdem auch als Vorwand für sexuellen Missbrauch genutzt werden. Sehen Sie das auch?

Kapella: Die Gefahr der sexuellen Gewalt sehe ich sehr wohl, wie zuvor ja schon betont. Wir wissen, dass der pädagogische Bereich ein Bereich ist, den pädosexuelle Menschen auch nutzen, um in Kontakt mit Kindern zu sein. Egal, ob es sich um den Bereich der Pfadfinder, der Kinder- und Jugendarbeit, der institutionellen Unterbringung von Kindern etc. handelt. Die Chance da auf Menschen zu treffen, die sich Kindern in sexueller Absicht nähern ist höher. Jeder Beruf mit Kindern birgt dieses Risiko. Deswegen ist einerseits die Qualitätssicherung in diesen Bereichen wichtig. Andererseits müssen Kinder möglichst früh in ihrer Entwicklung gestärkt und unterstützt werden. Das ist u.a. ein Aspekte, warum wir uns in den Standards entschieden haben, Sexualerziehung als einen Prozess zu verstehen, der von Geburt an beginnt. Bereits bevor das Kind erste Fragen stellen kann, vermitteln wir ihm eine Haltung zum Körper, zu bestimmten Körperteilen, geben ihm einen Eindruck wie wir mit Nähe und Distanz umgehen, etc. All das ist für uns in den Standards zur Sexualerziehung festgehalten und daher beginnt diese bereits ab Geburt und bevor eine reflektierte Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlichen erfolgen kann. Gerade diese ersten Erfahrungen, Werte und Haltungen können uns lange prägen. Dass Kinder frühzeitig Körperbezeichnungen kennen und lernen, Gefühle zu spüren und auszudrücken, Emotionen zu formulieren, einen positiven Zugang zu sich und seinem Körper zu finden, kann nicht früh genug starten und stellt eine zentrale Basis für das Leben als erwachsener Mensch da.

Sexualität der Vielfalt

Unosson: Die Sexualität der Vielfalt ist ja einer der Ziele in den WHO-Standards. Sexuelle Aufklärung orientiert sich eindeutig an der Gleichstellung der Geschlechter, an Selbstbestimmung und Anerkennung der Vielfalt.

Kapella: Es wäre mir schon wichtig, dass wir in den Standards von der generellen „Vielfalt“ sprechen und nicht das in den letzten Jahren viel diskutierte Schlagwort „sexuelle Vielfalt“. Wir haben damals, bevor dieser Ansatz der „sexuellen Vielfalt“ in der Sexualpädagogik entwickelt und diskutiert wurde, den Begriff Vielfalt bewusst verwendet. Uns war es wichtig, die Vielfalt in Bezug auf die Lebens- und Beziehungsformen, die sexuelle Orientierung, kulturelle und religiöse Werte, Verständnis von Geschlecht und natürlich auch in sexueller Hinsicht zu adressieren. Es geht nicht darum, in der Sexualpädagogik nur die „breite Masse“ mit Themen zu bedienen. Wir bereits öfters im Interview angesprochen, geht es darum die Breite, also die Vielfalt Aller im Blick zu haben. Kinder und Jugendliche, ja alle Menschen sind individuell sehr unterschiedlich, das muss die Sexualpädagogik im Blick haben. Wir leben in einer Welt, in der sich Menschen unterschiedlich definieren und konstruieren. Und das ist etwas, an das man Kinder heranführen muss. Ohne Frage.

Unosson: In den WHO-Standards wird von der Anerkennung der verschiedenen Normen zur Sexualität gesprochen. Sind alle Normen gleich gut?

Kapella: Wenn sie vor einem gesetzlichen Hintergrund in Ordnung sind, dann ja.
Ich bewerte in der sexualpädagogischen Arbeit nicht die Normen und Werte, solange sie in Einklang mit den Menschenrechten und den UN-Kinderrechten sind. Meine Aufgabe ist es nicht zu bewerten. Ich versuche weder die Werte der Lesben- und Schwulenbewegung zu forcieren noch die Werte der christlichen Kirche oder der muslimischen Glaubensgemeinschaft. Wie bereits angesprochen, steht für mich in der sexualpädagogischen Arbeit die Vermittlung der Pluralität im Vordergrund. Natürlich werden Menschen unterschiedliche Werte und Vorstellung in ihrer Arbeit in den Vordergrund stellen und wie schon an anderer Stelle betont, ist mir bewusst, dass Niemand ganz wertfrei ist und auch nicht sein kann. Grundsätzlich muss es Kindern und Jugendlichen aber ermöglicht werden, unterschiedliche Sichtweisen kennen zu lernen. Wichtig ist mir noch einmal zu betonen, dass diese im Einklang mit den Menschen- und Kinderrechten sind. Dies ist eine Grundlage, auf die sich die Staatengemeinschaft geeinigt hat und somit eine zentrale Richtschnur in der Gestaltung unseres gemeinsamen Lebens ist.

Unosson: Es steht auch als Ziel, das finde ich gut, Sexualaufklärung basiert auf wissenschaftlich korrekten Informationen. Ist es wissenschaftlich korrekt zu sagen, dass jede Person eine Frau als Mutter und ein Mann als Vater hat?

Kapella: Um jetzt etwas spitzfindig zu sein, wäre es wohl wissenschaftlich korrekt zu sagen, man braucht eine Ei- und Samenzelle, um menschliches Leben zu zeugen. Jeder Mensch hat dann enge Bezugspersonen, die ihn erziehen. Mit einem Augenzwinkern zum vorherigen Thema, kann man dann sagen, die Mehrheit würde diese Menschen als Mutter und Vater bezeichnen.

Unosson: Macht man es nicht komplizierter als es ist.

Kapella: Nein, finde ich nicht. Nein, weil viele Eltern nicht die Elternschaft für Kinder übernehmen, sondern andere Menschen nahe Bezugspersonen für Kinder sind, die bei Weitem prägender für Kinder sein können als es leibliche Eltern manchmal sind.

Unosson: Aber, dass jeder einen biologischen Vater und seine biologische Mutter hat das stimmt.

Kapella: In aller Regel würde ich so sagen, das stimmt. Ich weiß, was Sie meinen und ich glaube sie verstehen auch den Aspekte den ich betonen möchte.

Unosson: In Schweden ist die Zahl der Kinder, die ihr Geschlecht ändern wollen, seit 2013 sehr stark gestiegen. Im April 2021 hat das Karolinska Institutet in Stockholm bekannt gegeben, die Hormonbehandlungen für Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie einzustellen, weil es zu umstritten ist.
segm.org/Sweden_ends_use_of_Dutch_protocol

Kapella: Glauben Sie, dass es Kinder gibt, die wirklich so sind und wo die Eingriffe gut wären und die Menschen dann glücklicher sind?

Unosson: Ich glaube, dass Gott uns als Frau und Mann geschaffen hat. Ich bin überzeugt davon, dass Geschlechtsumwandlungen total irre sind.

Kapella: Das ist dann ein Unterschied zwischen uns. Ich bin davon überzeugt, dass es erwachsene Menschen und Kinder gibt, bei denen die medizinische Diagnose der Geschlechtsinkongruenz gestellt wird. Was ich aber mit ihrem Beispiel aus Schweden bestätigen kann ist die fachliche Diskussion um die Hormontherapie bei Kindern vor der Pubertät. Das ist eine Behandlung, die auch im deutschsprachigen Bereich durchaus kontrovers diskutiert wird – aber nicht mein Fachgebiet ist.

Unosson: Aber dann die letzte Frage: Welche Rolle hat die Sexualkunde für die geschlechtliche Identität der Kinder?

Kapella: Was ist die Sexualpädagogik? Also wenn Sie das punktuelle meinen, dass z.B. ein einmaliger sexualpädagogischer Workshop von zwei bis drei Stunden in der Klasse durchgeführt wird, sehe ich den Beitrag zur Ausprägung auf die Geschlechtsidentität von Kindern und Jugendlichen sehr begrenzt. Häufig werden externe sexualpädagogische Angebote nur punktuell in der Schule eingesetzt. Sie liefern sicherlich eine Anregung und geben einen Anstoß. Sie können auch dazu beitragen, dass Einzelne sich das erste Mal verstanden und angenommen fühlen und haben somit auch eine langfristige Wirkung. In Bezug auf die Ausbildung der Geschlechtsidentität, muss ich sagen: Da müssen wir die Kirche im Dorf lassen. Was sind zwei oder vier Stunden verglichen zu der Zeit, die ein Kind in der Familie, in der Schule, in der Gruppe der Gleichaltrigen verbringt. Ich bin sehr von meiner sexualpädagogischen Arbeit überzeugt, aber dass ich damit die Geschlechtsidentität von Kindern maßgeblich präge, sehe ich nicht. Da spielt die punktuelle Sexualpädagogik eine untergeordnete Rolle.

Unosson: Als Evangelische Allianz  wollen wir natürlich die Kirche im Dorf lassen.
Vielen Dank für das Gespräch!