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Das Meinungsspektrum in der evangelischen Kirche ist kleiner geworden. Die Kirche muss jedoch bereit sein, Raum für politische Kontroversen zu bieten und sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, etwa bei der Diskussion um die „Ehe für alle“. Diese Ansicht vertrat der Vorsitzende der EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung, der Theologieprofessor Reiner Anselm (München), am 21. August in Berlin. Dabei wurde ein 32-seitiges Impulspapier der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland vorgestellt. Anselm zufolge muss die Kirche anerkennen, dass Christen in politischen Fragen unterschiedlicher Meinung sein können. Über sie zu befinden, sei „keine Sache einer autoritären Verkündigung“. Laut Anselm besteht in der Kirche eine „Tendenz zur Eindeutigkeit“. Über Themen wie den assistierten Suizid, Abtreibung, die Präimplantationsdiagnostik und den Mindestlohn lasse sich jedoch trefflich diskutieren. Ziel einer demokratischen Streitkultur müsse es sein, die beste Lösung zu finden. Dabei müsse man streitbar in der Sache, aber fair im Umgang sein. In dem EKD-Papier spricht sich die Kirche für Demokratie „als Lebensform der Vielfalt“ aus, in der Konflikte und politische Auseinandersetzungen der Normalfall seien. Dabei könne die Politik „Gefährdungen populistischer Politikmuster“ nur überzeugend entgegentreten, wenn sie hörbereiter werde. Populistischen Positionen dürfe man nicht die Auseinandersetzung verweigern. Die Grenzen des Sich-Einlassens lägen dort, wo physische oder psychische Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung legitimiert werde, heißt es in dem Papier.

Bischof Dröge: Papier dient der Neuorientierung der Kirche

Der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Markus Dröge (Berlin), bezeichnete das Papier als „wichtige Stimme in der Diskussion um die Neuorientierung der Kirche in einer sich rasant wandelnden politischen Kultur“. In den neuen rechtspopulistischen Bewegungen gebe es viel „destruktives Potenzial“, dem man entgegentreten müsse. Es gelte, die Geister zu scheiden zwischen demokratiefeindlichen und demokratiefördernden Positionen. Die „rote Linie“ der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der Menschenrechte dürfe nicht überschritten werden. Zugleich leite das Papier zu einer kritischen Selbstreflexion an und provoziere Fragen, etwa ob evangelische Christen bereit sind, auch andere Grundpositionen zur Kenntnis zu nehmen und sich damit auseinanderzusetzen.

Politikwissenschaftler: Kirchen sollten keine politischen Lösungen vorschlagen

Laut dem Politikwissenschaftler Prof. Andreas Busch (Göttingen) sind die evangelischen Kirchen in der Vergangenheit in der Politikberatung sehr einflussreich gewesen. Mit ihren fast 23 Millionen Mitgliedern verträten sie mehr Menschen als alle Parteien zusammen. Anders als Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften hätten die Kirchen kein Eigeninteresse, sondern schauten auf das Gemeinwohl. Die Kirchen sollten es jedoch den Parteien überlassen, konkrete politische Lösungen vorzuschlagen, etwa wie hoch ein Steuersatz oder der Ausstoß von Schadstoffen sein dürfe. Ihre Aufgabe sei es vielmehr, Fragen zu stellen. Das EKD-Papier trägt den Titel „Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung“. Die Leitung der EKD – der Rat – hatte die Kammer für Öffentliche Verantwortung mit der Erstellung beauftragt. Das Beratungsgremium umfasst 21 Vertreter, darunter ist der Vorsitzende des württembergischen Gemeinschaftsverbandes „Die Apis“, Steffen Kern (Walddorfhäslach bei Reutlingen). Die Veröffentlichung enthält zehn Impulse, etwa zur Streitkultur und zur Bedeutung der Kirchen für die Demokratie.