Ein Grund für den Niedergang der Volksparteien in Deutschland liegt in der mangelnden Bereitschaft ihrer Politiker zum Dienen. Davon ist der ehemalige brandenburgische SPD-Politiker und jetzige evangelische Pfarrer Steffen Reiche (Berlin) überzeugt. Früher seien viele Sozialdemokraten bereit gewesen, ihrer Partei ein Leben lang zu dienen: als Wahlkämpfer, Funktionär oder Mandatsträger. „Heute wollen sie Karriere machen und sind deshalb in der Partei“, sagte Reiche gegenüber der Evangelischen Nachrichtenagentur idea. Viele in der SPD dächten „Kanzler kann ich auch“ und verhielten sich entsprechend. Auch im „Kanzlerwahlverein CDU“ sei die Disziplin nicht mehr so ausgeprägt wie früher. Wenn die Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel eines Tages zurücktrete, „wird diese Partei im Richtungsstreit explodieren, sich zerlegen“ und nicht mehr die heutige Kraft haben. Der 57-Jährige gehörte im Oktober 1989 zu den Gründern der Sozialdemokratischen Partei in der DDR und war von 1990 bis 2000 SPD-Landesvorsitzender in Brandenburg.
Angela Merkel ist eine „große Sozialdemokratin“
Reiche würdigt Merkel als „große Sozialdemokratin“, die ihre einst Konservative Partei in die Mitte gerückt habe. Ihr Verdienst sei auch, die CDU über so viele Jahre zusammengehalten zu haben. Merkel ist seit dem Jahr 2000 Parteivorsitzende. Als Beispiel für dienende Politiker nennt Reiche neben der Kanzlerin auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Beide könnten dies so überzeugend, „weil sie mehr vor Augen haben als den nächsten Karriereschritt“. Merkel und Steinmeier treibe die Verantwortung vor Gott und den Menschen. Viele andere Politiker richteten ihren Blick dagegen vor allem auf das eigene Fortkommen.
SPD ist die „größte Vorsitzenden-Verschleißmaschine“
Die SPD bezeichnete Reiche als die „größte Vorsitzenden-Verschleißmaschine“, die man sich vorstellen könne. In den 41 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg habe es drei Männer an der Parteispitze gegeben: Kurt Schumacher (von 1946–1952), Erich Ollenhauer (1952–1963) und Willy Brandt (1964–1987). In 31 Jahren danach seien elf weitere Vorsitzende gefolgt. „Und als zwölfte Vorsitzende werden wir wohl nun eine Linke haben“, sagte Reiche zur Entscheidung des SPD-Präsidiums, die Fraktionschefin im Bundestag, Andrea Nahles, als Nachfolgerin von Martin Schulz vorzuschlagen. „Nach ihr wird die Partei eine andere sein. Ich bin gespannt, ob das dann noch meine sein wird“, so der Theologe.
Reiche: Die Zeit der Volksparteien ist vorbei – Immer mehr Bewegungen
Nach seiner Einschätzung haben die Volksparteien ihre Zeit hinter sich. Auf die Zersplitterung der Linken folge nun „die Aufteilung der Rechten, der Konservativen“. In allen anderen Staaten Europas gebe es immer mehr Bewegungen neben und statt der Parteien. Als Beispiele nennt Reiche „En Marche“ in Frankreich von Präsident Emmanuel Macron oder die „Liste Kurz“ in Österreich, die bei der Nationalratswahl 2017 die meisten Stimmen errang und jetzt mit Sebastian Kurz den Bundeskanzler stellt.