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„Ohne das Erinnern der Lebensgeschichten der Opfer mit in die Zukunft zu nehmen, bleibt die Zukunft gefährdet.“ Das sagte der evangelisch-lutherische Bischof Michael Chalupka bei einem ökumenischen Gottesdienst am Sonntag, 10. Mai, in der Kapelle der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen. Der Gottesdienst, den Chalupka gemeinsam mit dem römisch-katholischen Linzer Bischof Manfred Scheuer und dem orthodoxen Erzpriester Alexander Lapin feierte, bildete den Auftakt zu der Gedenkveranstaltung anlässlich der Befreiung des NS-Konzentrationslagers vor 75 Jahren.

Nur durch das Gedenken könne Entwicklungen widerstanden werden, die den Wert eines Lebens über den Wert anderer Leben stellen, zeigte sich Chalupka in seiner Predigt überzeugt. Antisemitismus und Rassismus hätten nicht von den Rändern der Gesellschaft, sondern aus ihrer Mitte heraus entwickelt, „weil sie zu einer akzeptierten Haltung im Meinungsspektrum geworden waren“. In der Mitte der Gesellschaft gelte es daher achtsam zu sein, „wenn die Abwertung anderer aufgrund ihrer Herkunft oder Religion wieder salonfähig wird, wenn ein Wir konstruiert wird, das seine Identität aus der Abwertung anderer bezieht, wenn zwischen der Rettung des Lebens der Eigenen und der Rettung des Lebens anderer unterschieden wird“, warnte der Bischof. Daher brauche es auch Achtsamkeit, „wenn antisemitische Chiffren wieder in den europäischen Diskurs einziehen und Menschen sich nicht überall und immer offen zu ihrem Glauben bekennen können“. Dazu bedürfe es der Erinnerung.

Scheuer: Menschlichkeit immer verteidigen

Zu Beginn des Gedenkgottesdienstes an einem „Ort der Unmenschlichkeit und Barbarei“ sagte Bischof Scheuer in seinen Begrüßungsworten, Menschlichkeit sei verletzlich und müsse immer wieder neu verteidigt werden. Notwendig sei auch ein Gespür für das Leid anderer, damit Geschehnisse wie unter dem NS-Regime nicht eintreten, als Menschen zum „Material“ und zur „Nummer“ degradiert wurden.

Dem Judentum und dem Christentum sei eine „Ethik der Erinnerung“ tief eingeschrieben, sagte Chalupka in der Predigt weiter. In der Thora würden Gerechtigkeit und Solidarität gegenüber Fremden mit der Erinnerung an das eigene Leben als Fremdling und Flüchtling in Ägypten verknüpft, die ethische Norm lebe aus dieser Erinnerung. Das gleiche gelte auch für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die die Erfahrungen der Shoa reflektiere. Chalupka: „Berauben wir uns der Erinnerung an die Opfer, berauben wir uns des Fundaments, das unsere demokratische Gesellschaft im Innersten zusammenhält.“

Die Verbrechen des Nationalsozialismus hätten die Menschen „in radikaler Weise“ mit der Erfahrung der Gottesferne konfrontiert. „Und viele, die meinten, Gott nahe zu sein, die diese Gottesferne nicht spürten, weil sie auf der anderen Seite der Mauern lebten, waren ihm so ferne wie nie und haben versagt.“ Das gelte auch für die Kirchen. Chalupka: „Die Kirchen, gerade meine Evangelische Kirche, haben damals versagt, und viel zu wenige haben widerstanden.“

Das Erinnern an das Versagen und das Gedenken der Opfer sei in zweifacher Weise notwendig: „Die Täter dürfen nicht das letzte Wort haben, und die Opfer dürfen nicht namenlos bleiben.“ Stellvertretend nannte Chalupka im Gottesdienst die Namen evangelischer Geistlicher, die in Mauthausen ermordet wurden wie etwa Giaccopo Lombardini, der sich dem italienischen Widerstand angeschlossen hatte, Jean Lemaire, der zu „den Gerechten unter den Völkern“ gezählt werde, oder den niederländischen, reformierten Pfarrer Alter Rosenberg. Wie Chalupka bekanntgab, hat sich die Evangelische Kirche dazu entschlossen, deren Lebensgeschichten nachzugehen. Mit dem Forschungsprojekt ist Chalupkas Vorgänger, der frühere Bischof Michael Bünker befasst. „Sie alle sollen keine Nummern bleiben“, bekräftigte Chalupka, „sondern ihre Namen sollen in Erinnerung bleiben, um zu zeigen, dass es auch in der Zeit der Gottesferne möglich war, Gott nahe zu sein und mit ihm an der Seite der Opfer zu stehen“.

Lapin: „Abartige NS-Ideologie“

In einer zweiten Predigt nach der Lesung aus dem Johannesevangelium wies Erzpriester Lapin auf den Kontrast zwischen dem christlichen Menschenbild als Abbild Gottes und der „abartigen Ideologie“ des Nationalsozialismus hin. An die Stelle der Überzeugung, dass jedes Leben ein Geschenk und damit schützenswert ist, hätten sich in dieser Schreckenszeit Vorstellungen von Herren- und Untermenschen politisch durchgesetzt, so Lapin. Der orthodoxe Geistliche erinnerte an die dadurch ausgelöste „schlimmste Katastrophe der Menschheit“ mit 70 Millionen Toten. Die Seelen der Märtyrer seien in Mauthausen präsent und würden bis heute auffordern: „Besinnt euch! Wehret den Anfängen!“

Der Gottesdienst endete mit einem von Chalupka, Scheuer und Lapin gesprochenen aaronitischen Segen aus der Thora, den Martin Luther als Schlusssegen einer christlichen Messe einführte. Musikalisch umrahmt wurde die Feier vom in Mauthausen geborenen Religionspädagogen und Kirchenmusiker Alfred Hochedlinger. Mitgefeiert konnte online auf der Website des Mauthausen-Komitees werden, zudem übertrug der oberösterreichische Privat-TV-Sender LT1 live.

Im Anschluss fand ab 11 Uhr die einstündige Gedenkfeier mit Zeitzeugen-Statements, Videobeiträgen und weiterer Musik statt – zu sehen auf ORF III.