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Nach dem Gottesdienst in der Ruprechtskirche: Schweigegang zum Mahnmal für die Opfer der Shoah am Wiener Judenplatz.
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„Gedenken heißt, sein Herz berühren lassen. Gedenken heißt, sich nicht gegen das Leid immunisieren zu lassen, nicht durch Hohn und Spott und nicht durch den scheinbaren Zwang der unausweichlichen Gesetze dieser Welt.“ Das betonte der evangelisch-lutherische Bischof Michael Chalupka beim ökumenischen Gottesdienst anlässlich des Gedenkens an die Novemberpogrome von 1938 am 9. November in der Ruprechtskirche in Wien. Auf den Gottesdienst, an dem mehrere Vertreter der Kirchen teilgenommen haben, folgte ein Schweigegang für die jüdischen Opfer der Shoa auf dem Judenplatz.

„Wer das Leiden seiner Mitmenschen nicht zu spüren vermag, nicht sein Herz spürt und die Erschütterung fühlen kann, der nimmt Schaden an Herz und Seele“, sagte Bischof Chalupka in seiner Predigt. Der Bischof erinnerte daran, dass das Novemberpogrom in Österreich von besonders großer Brutalität gekennzeichnet war. Ein Fünftel der Getöteten im ganzen Deutschen Reich wurden in Wien ermordet. „Es war von langer Hand vorbereitet durch eine Medienkampagne und organisierte Horden aus SA und SS“, so Chalupka. Doch um die brennenden Synagogen „standen Menschen und schauten zu. Sie waren nicht organisiert. Da waren Männer, Frauen und Kinder, die, vom Spektakel und der Verhetzung angelockt, feixten und lachten, während Gebetshäuser brannten und Menschen vor ihnen im Staub lagen.“

„Was bringt Menschen dazu, angesichts des Leides, das sich vor ihren Augen abspielt zu feixen, zu spotten und zu lachen?“, fragte der Bischof. Chalupka wörtlich: „Wer spottet und lacht, nimmt das Leiden nicht wahr, immunisiert sich gegen das Leiden. Wer das Leiden nicht wahrnimmt, der spürt auch kein Mitleid. Wer das Leiden nicht spürt, kann auch nicht helfen.“

Das Novemberpogrom war der Auftakt der systematischen Verfolgung. Die blutige Nacht der zügellosen Gewalt wich der systematischen Verfolgung, die sich durch bürokratische Akribie und Rechtskonformität auszeichnet habe. „Den Raubzügen folgte die bürokratische Arisierung, dem Verprügeln und Quälen auf offener Straße folgten die Deportationen von Abertausenden. Die Gewalt wurde den Blicken der Öffentlichkeit entzogen.“

Der Blick auf das Leiden könne nicht nur durch Hohn und Spott und Verachtung verstellt werden, sondern könne auch dadurch getrübt sein, „dass man glaubt, das Recht auf seiner Seite zu haben, oder sich hinter der Bürokratie der scheint‘s rationalen Notwendigkeit verstecken zu können“, erklärte Chalupka und warnte, sich vor dem Schmerz anderer zu immunisieren. Heute hätten sich „Hohn und Spott, das Gelächter über die, die am Boden liegen“ andere Orte gesucht. „Sie ergießen sich über die Opfer in den Kommentarspalten der Online-Medien, in den Talkshows verstecken sie sich unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit und verwenden ihre antisemitischen, fremdenfeindlichen Chiffren wie eh und je und lachen sich dabei ins Fäustchen“, so der Bischof.

Auch die enge Auslegung des Buchstaben des Gesetzes müsse immer wieder dazu herhalten, „den Geist unseres Rechtsstaates, der auf den Menschenrechten fußt und ein Kind der grausamen Erfahrungen der Nazidiktatur ist, zu desavouieren. Da kann man dann eben nichts machen, auch wenn man an den Hebeln der Macht sitzt, wenn gut integrierte Flüchtlinge aus ihren Lehrstellen heraus in Flugzeuge gesetzt werden, die sie nach Afghanistan bringen, auch wenn ihnen dort der Tod droht.“

In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 wurden im gesamten deutschen Machtbereich Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte sowie Wohnungen zerstört und verwüstet. Zahlreiche Juden wurden bei den Pogromen getötet oder verletzt. Allein in Wien wurden im Zuge des Furors insgesamt 42 Synagogen und Bethäuser zerstört. 6.547 Wiener Juden kamen in Haft, knapp unter 4.000 davon wurden in das Konzentrationslager Dachau verschleppt.