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Rettungsarbeiten an einem eingestürzten Gebäude in Diyarbakır.
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Auch eine Woche nach dem Erdbeben in der syrisch-türkischen Grenzregion sind viele Menschen vor Ort in einer verzweifelten Lage. "Die Menschen warten auf Hilfe und Unterstützung, sie sind entmutigt und wissen nicht, wohin sie gehen sollen. Es wurden Zelte aufgestellt und Schulen eröffnet, aber die Situation ist nach wie vor höchst dramatisch." Das schilderte der römisch-katholische Pfarrer von Aleppo, Franziskanerpater Bajhat Karakach, in einem Interview mit der italienischen Nachrichtenagentur SIR (Wochenende). Die Zahl der bestätigten Todesopfer war am Sonntag auf über 35.000 gestiegen, die UNO schätzt jedoch, dass am 6. Februar über 50.000 Menschen ums Leben kamen. 5 Millionen Menschen sind laut WHO vom Erdbeben betroffen, allein in Aleppo wurden 200.000 obdachlos.

Aleppo sei gekennzeichnet durch ein "sehr hohes Ausmaß der Zerstörung der Häuser", berichtete P. Karakach. Der Bedarf an Unterstützung und Mitteln sei enorm, doch werde die wenige ankommende Hilfe oft von kriminellen Banden gestohlen. "Wir werden auch Zeuge von Plünderungen, die durch die fehlende Präsenz der Ordnungskräfte in diesem Gebiet begünstigt werden. Die Menschen leben in völligem Elend und warten auf Hilfe", so der Ordensmann, der in seiner Pfarre derzeit 500 obdachlos gewordene Menschen beherbergt. In einer anderen Pfarre seien sogar 2.000 Personen untergekommen.

Wie dramatisch sich das Fehlen der Hilfsgüter auswirkt, verdeutlichte der Franziskanerpriester am Mangel der medizinischen Versorgung. Ein ihm bekannter 46-jähriger Familienvater habe sich bei einem Sturz eine schwere Körperverletzung zugezogen, könne aber in Aleppo nicht behandelt werden, da es keine entsprechenden Zentren gebe. Alle Versuche, den Mann nach Jordanien oder Europa zu schicken, seien fehlgeschlagen, da ihm die Einreise verweigert worden sei. P. Karakach: "Wenn er behandelt würde, könnte er 80 Prozent seiner Bewegungsfähigkeit wiedererlangen. Und es gibt Tausende wie ihn hier in Syrien. Wenn sie geheilt sind, können sie zurückkehren, um einen Beitrag zum Land zu leisten und ihre verlorene Würde wiederzuerlangen."

Nuntius für "Schweigen der Waffen"

Unübersehbar hat die Tragödie eine internationale sowie auch politische Komponente, die von zahlreichen Kirchenvertretern bereits adressiert wurde. Zu einem "Schweigen der Waffen" und zur Aufhebung der Sanktionen für das Kriegs- und Erdbebenland Syrien hat etwa der päpstliche Botschafter im Land, Kardinal Mario Zenari, aufgerufen. Alle weltweiten humanitären Anstrengungen seien vonnöten, wozu auch die internationale Gemeinschaft "ideologische Spaltungen" überwinden müsse, sagte der Kardinal in einem Interview mit "AsiaNews". Die Erdbebentragödie stelle "die Menschlichkeit aller auf die Probe". Als Hoffnungsschimmer bezeichnete der Kardinal hier die Lüftung mancher Sanktionen durch die USA sowie die Ankündigung eines einseitigen Waffenstillstandes durch die kurdische Arbeiterpartei PKK.

Zenari berichtete aus der vom Beben betroffene Millionenstadt Aleppo von "Verwüstungen und Ruinen": Die zwölf Jahre Krieg und nun das Erdbeben hätten ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht und Ruinen hinterlassen, darunter auch eingestürzte Minarette und beschädigte Kirchen. Beklemmend sei jedoch vor allem das allgemeine Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung: Da die Häuser unsicher seien, wagten die Bewohner nicht mehr, sie zu betreten, und viele schliefen trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt auf der Straße, manche von ihnen mangels Matratzen sogar auf Stühlen. Kirchliche Einrichtungen würden jeweils bis zu hunderten Menschen eine Notunterkunft gewähren.

"Die wirkliche Not besteht darin, diesen Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben. Die internationale Gemeinschaft wird über die unmittelbare Notlage hinaus Hilfe leisten müssen", forderte Zenari. Freilich sei die Hilfe in Syrien schwieriger als in jedem anderen europäischen Land nach einem Erdbeben, seien doch nicht nur die Gebäude zerstört, sondern auch Strom, Benzin und Diesel knapp. Der syrischen Regierung dankte der Vatikan-Botschafter "für die Treibstofflieferungen, die unsere Einrichtungen mit Strom versorgen, denn es wäre unvorstellbar, über tausend Menschen ohne Strom unterzubringen." Lebensmittel und Gas würden auch zum Kochen benötigt.

Unsicherheit und Trauma

Als eine "Massensvernichtungswaffe" bezeichnete gegenüber "Vatican News" der Direktor des seit 12 Jahren in Aleppo tätigen Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (JRS) Syrien, Tony O'Riordan, den "stadtweiten Verlust des Sicherheitsgefühls". Die Tausenden Überlebenden des Bebens seien von diesem sehr verängstigt, hätten "große Angst vor weiteren Erschütterungen und ein verständliches Trauma und ein Gefühl der Angst", so der Ordensmann. Die Jesuiten vor Ort seien derzeit vor allem als Seelsorger gefordert - um "den Menschen ein offenes Ohr zu geben, damit Gottes Geist mit Mitgefühl in das Trauma und den Terror eintreten kann".

Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst verteilt in Syrien Lebensmittel und liefert Matratzen für Quartiere, in denen obdachlos gewordene Menschen unterkommen. Insgesamt gebe es derzeit 126 Notunterkünfte in der Stadt, und alle hätten Mühe damit, die schiere Anzahl und Menge der Erdbebenopfer zu versorgen, berichtete O'Riordan. Die bei JRS tätigen Freiwilligen seien "körperlich als auch emotional betroffen", weshalb man versuche, ihre Bedürfnisse einzuschätzen und sie dazu zu bringen, "aufzustehen, damit sie mit anderen stehen können", sagte der Jesuit. Wichtig sei, in den kommenden Tagen bereits bestehende Gesundheitszentren wiedereröffnen zu können, um dort "primäre Gesundheitsversorgung, insbesondere für Frauen und Kinder" wieder anzubieten.

"Dach über Kopf" hat Vorrang

Einblicke in die kirchlichen Hilfsmaßnahmen in Aleppo gewährte auch das Hilfswerk "Kirche in Not" in einer Aussendung. Die neun christlichen Konfessionen in der zweitwichtigsten Stadt Syriens setzten stärker denn je auf Zusammenarbeit, hieß es in dem Bericht. So hätten etwa gleich nach dem Erdbeben die katholischen Bischöfe ein Ingenieursteam mit der Erfassung der Schäden an den Häusern ihrer Gemeindemitglieder sowie mit einer Kostenschätzung für die Reparatur beauftragt. Die Orthodoxen wollten sich dieser Initiative ebenfalls anschließen. Über den gebildeten gemeinsamen Ausschuss der Kirchen wird "Kirche in Not" Mietbeihilfen für Familien bieten, deren Häuser zerstört wurden.

Wie es hieß, hat "Kirche in Not" in einem ersten Schritt eine halbe Million Euro Nothilfe für die Erdbeben-Betroffenen in Aussicht gestellt. Das Hilfswerk arbeitet bereits seit Jahren mit den lokalen Kirchen zusammen, darunter etwa in den Regionen Aleppo und Latakia. Projektreferent Xavier Stephen Bisits, der noch am Tag der Katastrophe nach Syrien gereist war, berichtete von bereits angelaufenen Hilfsprojekten zur Linderung der Not der Menschen. "Wir arbeiten zum Beispiel mit den Franziskanern in Latakia zusammen, die Decken und Lebensmittel zur Verfügung stellen; die armenisch-orthodoxe Gemeinde hat ein Projekt vorbereitet, um Menschen mit Medikamenten zu versorgen." Es gebe auch Hilfen für ältere Menschen, die ihre Häuser nicht verlassen möchten und jetzt auf sich allein gestellt seien.

Auch unter der notleidenden Bevölkerung Aleppos gebe es eine "spürbare Einheit und Solidarität", so "Kirche in Not" mit Verweis auf eine lokale Mitarbeiterin vor Ort, Marie Rose Diab. Da nur sehr wenige Hilfen von außen in die Region gelange, werde gegenseitige Unterstützung seitens der Bewohner für die Betroffenen geleistet, wie auch immer dies möglich sei - durch Nahrung oder Spenden.