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Der Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ verstoßt aus Sicht der Verfassungsrichter gegen das Selbstbestimmungsrecht.
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Mit der höchstrichterlichen Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) wurde am Freitag die Strafbarkeit für Beihilfe zum Selbstmord aufgehoben. Der Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ verstoßt aus Sicht der Richter gegen das Selbstbestimmungsrecht und sei somit verfassungswidrig. Die Tötung auf Verlangen bleibt hingegen – zumindest vorerst – noch strafbar.

Die Erkenntnis zur Sterbehilfe des VfGH sorgt in einem Großteil der österreichischen Bevölkerung für Unmut, stellt dieser doch einen Kulturbruch mit dem bisherigen bedingungslosen Schutz des Menschen am Lebensende dar.

Wenn ein Mensch Suizidgedanken in sich trägt, "braucht er ein Gegenüber, das ihm mitfühlend lebensbejahende Aus-Wege aufzeigt, statt sich mit den Selbsttötungsgedanken des anderen zu 'solidarisieren'", so Peter Stippl, Präsident des Österreichischen Bundesverbandes Psychotherapie (ÖVBP) im Vorfeld der Entscheidung.

Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres sagte nach dem Urteil, es drohe die Gefahr, "dass ältere und kranke Menschen vermehrt unter Druck geraten, ihre Daseinsberechtigung und ihren Lebenswillen zu rechtfertigen".

Hospiz- und Palliativversorgung: Ende des Österreichischen Weges

Klarer Befürworter der bisherigen österreichischen Regelung war u.a. der Dachverband Hospiz, welcher sich 2014/15 aktiv an der Parlamentarischen Enquete-Kommission "Würde am Ende des Lebens" beteiligte. Die Dachverbands-Präsidentin Waltraud Klasnic bezeichnete hierbei die Sterbehilfe als "Unwort der Zeit". Es gelte die Frage: "Wo ist die Grenze? Wo fängt es an und wo hört es auf? ...Wer entscheidet?" Dass es zu wenig sei, Nein zu sagen zur Tötung auf Verlangen und zur Beihilfe zum Suizid stellte der Dachverband heuer im Frühjahr gemeinsam mit der Österreichischen Palliativgesellschaft klar, und weiter: "Die Not der Betroffenen ist ernst zu nehmen und wirksame Hilfe zu deren Linderung anzubieten. Wir sind herausgefordert, das Sterben als Teil des Lebens zu sehen und gut zu begleiten."

Auch Gertrude Aubauer, die Vorsitzende der Enquete-Kommission, verwies in ihrer Erklärung auf die damalige Anhörung von mehr als 500 Experten, Ärzten, Praktikern und Pflegern. Der Grundtenor von sei gewesen, Menschen bewege am Lebensende vor allem der Wunsch, nicht leiden zu müssen, so die Journalistin und frühere Nationalratsabgeordnete. "Daher haben alle Parteien einstimmig den Ausbau von Hospiz- und Palliativversorgung beschlossen! Das ist unser österreichischer Weg!" Ähnlich äußerte sich der Kommandant des Malteser-Hospitaldienstes Austria, Richard-Wittek-Saltzberg: Zuwendung und Trost sei das, was allen, die dem Tod sehr nahe seien, am meisten benötigten. Bei einer "guten, menschlichen Palliativbetreuung" sei "auch in schwierigsten Situationen ein 'Ja' zum Leben möglich".

Vorsitzender der Bischofskonferenz kritisiert Entscheidung des Höchstgerichts

Salzburgs Erzbischof Franz Lackner betonte als Vorsitzender der Bischofskonferenz nach der Entscheidung des Höchstgerichts: "Jeder Mensch in Österreich konnte bislang davon ausgehen, dass sein Leben als bedingungslos wertvoll erachtet wird - bis zu seinem natürlichen Tod. Diesem Konsens hat das Höchstgericht mit seiner Entscheidung eine wesentliche Grundlage entzogen", so Lackner, der "mit Bestürzung" das VfGH-Urteil bezüglich des Verbots der Beihilfe zur Selbsttötung aufnahm.

"Die selbstverständliche Solidarität mit Hilfesuchenden in unserer Gesellschaft wird durch dieses Urteil grundlegend verändert", so der Erzbischof weiter. Lackner sprach ebenfalls von einem "Dammbruch" und warnte vor der Tatsache, dass mit der durch die Verfassungsrichter erlaubten Beihilfe zum Suizid der Druck auf kranke und ältere Menschen steigen werde, um von der Sterbehilfe Gebrauch zu machen.

"Wer in einer existenziellen Krisensituation wie Krankheit und Lebensmüdigkeit einen Sterbewunsch äußert, braucht keine Hilfe zur Selbsttötung, sondern menschliche Nähe, Schmerzlinderung, Zuwendung und Beistand", so der Bischofskonferenz-Vorsitzende. "Wir dürfen den Menschen nicht aufgeben, auch wenn er sich selbst aufgegeben hat."

Die Kirche möchte sich künftig in der Palliativ- und Hospizarbeit, als auch in der Suizidprävention und Begleitung von Menschen in Lebenskrisen noch intensiver einbringen, wie der Salzburger Erzbischof ankündigte. Er rief den Gesetzgeber auf, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um den bisherigen österreichischen Weg möglichst weiterzuführen. "Der Mensch soll an der Hand eines anderen, aber nicht durch die Hand eines anderen sterben", zitierte Lackner den Kardinal Franz König.

Bischöfe Marketz kritisiert VfGH-Urteil über Legalisierung der Beihilfe zur Selbsttötung

Betroffen zeigte sich auch der Kärntner Bischof Josef Marketz: "Wir müssen alles dafür tun, dass möglichst wenige Menschen den Wunsch zu einem assistierten Suizid äußern, vor allem, weil ein solcher Wunsch oft auch ein verdeckter Hilfeschrei nach Zuwendung, Nähe und Mitgefühl ist." Marketz empfielt auch Schwerstkranken durch Zuwendung und Nähe neuen Lebenssinn zu schenken.

Im Vordergrund sollte nicht die Sterbehilfe, sondern die Sterbebegleitung stehen, wie sie "in vorbildhafter Weise" in den Hospiz- und Palliativeinrichtungen geschehe. Bischof Marketz, erinnert, dass Gott über den Beginn und dem Ende des Lebens entscheide. "Die politischen Vertreter sind nun in der Verantwortung, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um mit entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen unmissverständlich dafür zu sorgen, dass ein Missbrauch des neuen Gesetzes verhindert wird und der Einfluss Dritter ausgeschlossen ist", so der Kärntner Bischof.

Der VfGH-Entscheid wird ebenfalls vom steirischen Bischof Wilhelm Krautwaschl massiv kritisiert: "Das menschliche Leben ist schützenswert - von Anfang bis zum Ende. Diese grundlegende Botschaft unseres Glaubens und damit auch des Verständnisses vom Menschen und dem Miteinander in der Gesellschaft wird durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes ausgehebelt", so Krautwaschl. "Der Dammbruch ist eingeleitet: menschliches Leben und damit auch Leiden, Behinderung und Sterben werden verhandelbar. Das schmerzt mich und wohl viele, die das Leben als Geschenk aus Gottes Hand betrachten, zutiefst."

Evangelische Kirche stellt klare Forderungen an Gesetzgeber

„Damit die neue gesetzliche Regelung, die der Gesetzgeber bis 31. Dezember 2021 auf den Weg zu bringen hat, nicht unbarmherzig wird, muss sichergestellt werden, dass das Gesetz so ausgestaltet wird, dass zum einen Missbrauch unmöglich gemacht wird und es zu keiner gewerblichen Suizid-Hilfe kommt. Zum anderen muss sichergestellt werden, dass aus dem Recht auf Selbstbestimmung keine Pflicht für Ärztinnen, eine solche Hilfeleistung erbringen zu müssen, werde.“ Bischof Michael Chalupka hofft, dass eine gesetzliche Regelung gefunden wird, welche die Beihilfe zum Suizid auf die letzte Lebensphase begrenzt.

Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser erinnert an die zahlreichen „Lücken“, die trotz der parlamentarischen Enquete „Würde am Ende des Lebens“ im Jahr 2015 einen verbindlichen Stufenplan für den flächendeckenden Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung bis zum Jahr 2020 empfohlen hatte. „Nun ist die Bundesregierung in der Pflicht, den flächendeckenden Ausbau verbunden mit einem Rechtsanspruch auf Palliativversorgung sicher zu stellen“, so Moser in Richtung der Türkis-Grünen Regierung.

Reaktionen aus Politik

Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) zeigte sich nach dem VfGH-Urteil überrascht: „Mit dem Erkenntnis zur Sterbehilfe weicht der VfGH von seiner eigenen Rechtsprechung ab, wonach ein Verbot der aktiven Sterbehilfe im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers liegt". Man müsse nun prüfen, "welche gesetzlichen Schutzmaßnahmen notwendig sind", so Edtstadler.

Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer reagierte äußerst zurückhaltend in ihrer ersten Stellungnahme: „Die Folgen der Entscheidung des VfGH zum Thema Beihilfe zum Suizid bedürfen einer umfassenden Prüfung". Die Grünen fordern eine breite Einbindung von Experten und der Zivilgesellschaft.

Erfreut reagierte hingegen Gesundheitssprecher Gerald Loacker (NEOS) auf die Entscheidung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes: „Diese Entscheidung ist für viele todkranke Menschen in Österreich eine lange ersehnte Nachricht. Sie gibt ihnen die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Lebensende, auf ein Sterben in Würde".

IMABE sieht "Zaun-Abbau bei höchster Lawinengefahr"

Das kirchliche Bioethikinstitut IMABE kritisiert die VfGH-Entscheidung als "schweren Rückschritt". Es sei "alles andere als eine Erleichterung sogenannter Selbstbestimmung", wenn Menschen inmitten der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Angststörungen, Depressionen und Suizide nun erfahren, "dass der Staat gutheißt, wenn andere ihnen bei der Selbsttötung helfen", so IMABE-Geschäftsführerin Susanne Kummer am Freitag. Das Urteil sei so, "als ob man bei der höchsten Lawinenwarnstufe die Schutzvorrichtungen abbaut".

Der VfGH habe in seinem Urteil vollkommen ausgeblendet, dass der Wunsch zu Sterben "nicht dasselbe wie die Aufforderung zum 'Töte mich!'" sei, so die Ethikerin. IMABE kritisiert das Urteil der Höchstrichter, weil sie zwischen einem "Sterben zulassen" bzw. Ablehnung von lebensverlängernden Maßnahmen und einer Tötung nicht differenzieren. Dieser Unterscheid bestehe jedoch und sei "fundamental", so Kummer. Das Töten von Patienten ist "keine Therapieoption".

Die österreichischen Verfassungsrichter haben sich von der grundlegenden Aufgabe des Staates verabschiedet, Menschen in verletzlichen Lebensphasen zu schützen. "Hilfe beim Sterben braucht jeder Mensch: Gut begleitet, Angst und Schmerzen nehmen - aber nicht das Leben", so IMABE-Geschäftsführerin Kummer.

Sterbehilfe: Katholischer Familienverband bestürzt über VfGH- Entscheidung

Bestürzt zeigt sich Alfred Trendl, Präsident des Katholischen Familienverbandes, über die Lockerung des Sterbehilfeverbotes. Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs wird die Beihilfe zum Selbstmord künftig nicht mehr unter Strafe gestellt. "Damit wird das Lebensende antastbar“, sagt Alfred Trendl. Es überrascht ihn, dass es der Verfassung entsprechen soll, menschliches Leben in dieser Weise zur Disposition zu stellen.

Trendl befürchtet einen regelrechten Dammbruch. „Ohne das Erkenntnis im Detail zu kennen, muss die Gesellschaft jetzt alles tun, um dem absehbaren großen Druck auf alte, behinderte oder unheilbar kranke Menschen, niemanden zur Last fallen zu wollen, etwas entgegenzusetzen. „Es geht – wie meist im Recht – um eine Güterabwägung; diesmal ist die Entscheidung zu Lasten des menschlichen Lebens ausgefallen“, so der Präsident des Katholischen Familienverbandes.

Der Auftrag an den Gesetzgeber, Maßnahmen gegen Missbrauch zu treffen, ist für Trendl „eine Selbstverständlichkeit“. Damit, so vermutet er, werde nur versucht zu verschleiern, welch gravierenden Eingriff in menschliches Leben dieses Judikat darstelle. „Trotz dieses Judikates wird ein seelsorgliches Gespräch für Menschen, die assistierten Suizid in Anspruch nehmen, immer möglich sein“, ist der Präsident des Katholischen Familienverbandes überzeugt.

Als wichtige und notwendige Begleitmaßnahme zu diesem Judikat fordert der Katholische Familienverband eine Informationskampagne zur Patientenverfügung: „Mit einer Patientenverfügung ist es beispielsweise möglich, lebensverlängernde Therapien abzulehnen“, so Alfred Trendl. „Sie ist damit eine wichtige Basis, um Autonomie zu gewähren und den Weg des Abschieds selbst zu bestimmen.“ Darüber hinaus appelliert der Präsident des Katholischen Familienverbandes an Bund und Länder als unbedingte Notwenigkeit die Palliativ- und Hospizeinrichtungen auszubauen und ausreichend zu finanzieren. „Ob Palliativpflege in Anspruch genommen werden kann, darf keine Frage des Wohnortes und des Geldes sein.“

Angesichts der Tragweite des Beschlusses ist laut Trendl die notwendige Mehrheit bei Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofs in Frage zu ziehen. „Es stellt sich für mich die Frage, wenn im Nationalrat eine Verfassungsmaterie einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedarf, warum dies nicht auch bei Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofs vorgesehen ist?“