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Das herrschende Schlankheitsideal lässt das Idealgewicht immer weiter nach unten sinken.
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Die Ursache für den „völlig verkrampften“ Umgang der Deutschen mit dem Essen liegt im Protestantismus. Diese Vermutung äußert der Ernährungspsychologe Johann Christoph Klotter (Fulda) in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“. Der Protestantismus predige Askese als Tugend und Genuss als Sünde. In der heutigen Zeit, in der Religionsgemeinschaften „nicht mehr so en vogue sind, habe sich auf diesem Nährboden eine Bewegung gebildet, „die radikale Askese als Tugend versteht – Schlankheitswahn als säkularisierte Fortsetzung der protestantischen Idee“. Die Anhänger verträten im Grunde auch nur die moralisch-religiöse Lehre von der Mäßigung. Nur komme sie heute im wissenschaftlichen Gewand daher. Man Glaube, mit Studien begründen zu können, warum man ständig Sport treiben müsse, kaum Kohlenhydrate mehr esse und kein Gluten mehr zu vertragen meine. Laut Klotter sind aber viele wissenschaftliche Untersuchungen zu Gewicht und Ernährung durch ideologische Ansichten der Forscher beeinflusst. Das führe dazu, dass das Credo „Dick sein macht krank“ zunehmend zementiert werde und das sogenannte Idealgewicht immer weiter nach unten gehe. Dabei habe die US-Forscherin Katherine Flegal herausgefunden, dass Übergewichtige über alle Krankheitsbilder die geringste Sterberate hätten.

Superbewusste Esser inszenieren sich selbst

Nach Ansicht von Klotter inszeniert sich der superbewusste Esser selbst: „Er vermittelt seiner Umwelt, dass er sich besonders gut um seinen edlen Körper kümmert. Über eingebildete Lebensmittelunverträglichkeiten entwickelt er seine Identität.“ Der Psychologe schildert eine Erfahrung auf einer Geburtstagsfeier. Eine Frau habe den Raum betreten und sofort begonnen zu erzählen, was sie alles vom Büffet nicht essen könne: „Eine egozentrische Inszenierung erster Güte.“

Das Schlankheitsideal macht uns „essgestört“

Klotter zufolge macht das herrschende Schlankheitsideal die Deutschen „essgestört“. Und der Kapitalismus tue sein Übriges: „In einem Arbeitsmarkt, in dem Beschäftigungsverhältnisse immer kurzfristiger werden, man sich ständig neu bewerben muss, sich selbst als Marke inszenieren, wird die Beherrschung des eigenen Körpers immer wichtiger.“ Die Politik greife den Zeitgeist auf und verstärke ihn. Sie vermittele in Deutschland, aber auch in anderen Staaten: „Die Stärke der Nation hängt vom körperlichen Zustand ihrer Bevölkerung ab.“