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V.l.n.r.: Birgitt Haller, Džemal Šibljakovi, Verena Fabris, Nikolaus Tsekas und Dietrich Schotte (nicht im Bild) sprachen über Gewalt und notwendige präventive Schritte.
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Wie menschlich ist „Gewalt“? Dieser Frage stellten sich am 8. November vier Expert*innen bei einem Vortrags- und Diskussionsabend im Albert Schweitzer Haus in Wien-Alsergrund. Die Plattform Strafrechtsethik hatte in Kooperation mit „Neustart“, Verein für Bewährungshilfe, Konfliktregelung und soziale Arbeit, zu der Veranstaltung geladen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Verena Fabris, Leiterin der Beratungsstelle Extremismus.

„Soziale Strukturen können verschleiern und Gewalt mitverursachen“, erklärte Dietrich Schotte vom Institut für Philosophie an der Universität Regensburg in seinem Einführungsvortrag. Gewalt erscheine oft als „routiniertes Handeln“. Dabei könne sie mit der Zeit als so selbstverständlich erachtet werden, dass sie selbst nicht mehr als Gewalt wahrgenommen werde. Im kirchlichen Kontext begünstigten Faktoren wie moralische Autorität und geistliche Macht vor allem sexuelle Gewalt.

Im Anschluss an den Vortrag diskutierten die Expert*innen Gewaltprävention bzw. konkrete Unterstützungsleistungen für Individuen, um sich als Einzelne*r und als Bevölkerung bewusst gegen Gewalt zu entscheiden. Diskutiert wurden die Fragen vor dem Hintergrund der anstehenden Evaluierung zu verpflichtenden Beratungsstunden nach einer Wegweisung von Gewalttäter*innen im familiären Umfeld, aber auch der in Österreich gestiegenen Zahl an Femiziden.

Tsekas spricht sich für Dialog mit Tätern aus

„In Österreich ist auffällig, dass die Zahl der Morde an Männern zurück gegangen und jene an Frauen gestiegen ist“, sagte die Juristin und Politikwissenschafterin Birgitt Haller vom Institut für Konfliktforschung. Eine Rolle spielten dabei patriarchale Strukturen. Haller forderte neben dem Schutz von Frauen eine verstärkte Gewaltprävention durch die Arbeit mit Tätern, dem Nikolaus Tsekas, Leitung des Vereins Neustart in Wien, zustimmte. Wichtig sei, auch mit gewaltbereiten Menschen in den Dialog zu treten. „Ein Problem sind Patriarchat und Rollenbilder, die sehr langsam aufgebrochen werden und sich verändern. Nur wenn wir mit den Tätern arbeiten, können wir Opferschutzmaßnahmen verbessern“, betonte Tsekas. Viele Täter hätten auch eine Opfererfahrung. „Es ist erschreckend, dass viele Kinder und Jugendliche diese Muster wieder aufgreifen“, meinte Tsekas, der sich allerdings optimistisch zeigte. So sei es mit Unterstützung von Neustart gelungen, in Österreich – einschließlich bei der Exekutive – eine größere Sensibilisierung für Gewalt an Frauen zu erreichen.

Wesentlich sei, die Schuld für Straftaten nicht bei den Opfern zu suchen, sondern eine Täter-Opfer-Umkehr zu vermeiden, unterstrich der Sozialarbeiter und Religionspädagoge Džemal Šibljakovi von der Islamischen Gefängnisseelsorge. Zudem brauche es „auch mehr Bewusstsein für Mittel und Förderungen zum Zweck der Gewaltprävention, bevor eine Straftat vorliegt“, so Šibljakovi.

Geist: Männerbild fängt im Kindergarten an

Der Wiener Superintendent und frühere Gefängnisseelsorger Matthias Geist betonte in seiner Wortmeldung, dass Gewaltprävention im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung schon sehr früh ansetzen müsse. „Das Männerbild fängt bereits im Kindergarten an“, sagte Geist. Tsekas unterstützte diese Forderung und hob hervor, dass dabei mit Buben und Mädchen gleichermaßen gearbeitet werden müsse. Darüber hinaus seien hier die Rahmenbedingungen wichtig, um langfristig Gewalt in der Gesellschaft entgegenzuwirken. „Kindergärten brauchen wesentlich mehr und besser bezahltes Personal mit einem klaren Auftrag – dann würde sich etwas verändern“, ist Tsekas überzeugt.