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Zu mehr Realismus in der Sterbehilfe-Debatte hat die Wiener Ethikerin Susanne Kummer aufgerufen. Der österreichischer Gesetzgeber müsse sich bei seinen Überlegungen zu den vom Verfassungsgerichtshof eingeforderten Regelungen für die Suizidbeihilfe die Entwicklungen in den Benelux-Staaten bei diesem Thema vor Augen halten, forderte die Geschäftsführerin des Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) am Dienstag in einer Stellungnahme gegenüber Kathpress. "Das Bild des freien, selbstbestimmten Todes gerät angesichts des älteren Menschen, der sozial vereinsamt immer mehr Angst vor seiner Hinfälligkeit bekommt und deshalb Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum Suizid wählt, ins Wanken", warnte die Expertin.

In Belgien und den Niederlanden ist das System, das Missbrauch von Tötung auf Verlangen sowie des assistierten Suizids verhindern soll, "de facto gescheitert", besagt zumindest eine soeben erschienene Studie der Universität Gent im "Journal of Medicine and Philosophy", auf welche die IMABE-Geschäftsführerin verwies. Seit der Einführung der Sterbehilfe in den beiden Staaten ist das anfangs sehr engmaschige gesetzliche Modell, das für Länder wie Kanada oder nun auch Spanien Vorbild ist, ständig ausgeweitet worden und damit auch die Fallzahl massiv gestiegen: Von jährlich 1.882 (2002) auf 6.361 Fälle (2019) in den Niederlanden und von 24 (2002) auf 2.656 Fälle (2019) Fälle in Belgien, besagt die Statistik.

Anhäufung von Beschwerden ausreichend

Im belgischen sogenannten "Euthanasiegesetz" von 2002 ist diese Praxis nur bei schweren, unheilbaren und unerträglichen Krankheiten zugelassen. Mittlerweile akzeptiert man jedoch auch "Lebensmüdigkeit" als Grund - zwar nicht offiziell, doch können Ärzte das Gesetz umgehen, indem sie eine sogenannte "Polypathologie" diagnostizieren, d.h. eine Anhäufung multipler Altersbeschwerden wie etwa Seh- und Hörverlust, chronische Schmerzen, Rheuma, Schwäche und Müdigkeit. 2019 wiesen bereits 17,3 Prozent aller gemeldeten Fälle von Sterbehilfe in Belgien "Polypathologie" auf, davon 47 Prozent nicht in terminalem Stadium. Für die Studienautoren um den Public Health-Experten und Ethiker Kaspar Raus ist dieser Wandel ein Hauptgrund für den starken und anhaltenden Anstieg der Fälle.

Ein Schwachpunkt sei jedoch auch, dass die obligatorische Konsultation von einem oder zwei unabhängigen Ärzte keine wirkliche Sicherheit biete, so Forschungsleiter Raus weiter. Ihre Kompetenzen seien begrenzt, ihre Einschätzung nicht bindend und am Ende entscheide ohnehin "der behandelnde Arzt", der die Tötung auf Verlangen auch gegen eine negative Einschätzung der konsultierenden Arzte durchführen kann.

Schließlich sei auch, so der dritte genannte Grund, die staatliche Kontrollkommission zur Einhaltung der Gesetze und Schutzkriterien kein Vermittler zwischen den Sterbehilfe leistenden Ärzten und der Staatsanwalt, sondern vielmehr ein "Schutzschild" zur Verhinderung einer Weiterleitung potenziell problematischer Fälle; kein einziger Fall sei bisher an die Staatsanwaltschaft gegangen. IMABE-Geschäftsführerin Kummer zufolge kommt die Kritik nicht von ungefähr: Der Vorsitzende der 16-köpfigen Kommission, der Arzt Wim Distelmans, führe seit Jahren selbst Tötung auf Verlangen durch und stehe somit im Interessenkonflikt. Mehrere Kommissionsmitglieder hätten das Gremium aus Protest gegen mangelnde Transparenz und Kohärenz bereits verlassen.

Tötung als Therapie für Sinnkrise

Schätzungen zufolge wird nur einer von drei Euthanasie-Fällen in Belgien offiziell gemeldet, und auch in den Niederlanden steigt die Zahl der Sterbehilfe-Fälle bei Senioren aus Gründen des hier als "multiples geriatrisches Syndrom" bezeichnetes Leiden. 1.605 Fälle von assistiertem Suizid mit dieser Begründung wurden offiziell zwischen 2013 und 2019 gemeldet. Als "unerträglich" empfinden Senioren ihr Dasein weniger aufgrund von körperlichen Einschränkungen, sondern vor allem, wenn existenzielle Krisen und Einsamkeit die Sinnhaftigkeit des Lebens in Frage stellen, zeigen Forscher der Universität Utrecht im Wissenschaftsjournal JAMA auf. Die Frage, was unerträglich ist, lasse sich in diesem "komplexen Zusammenspiel von physischem, psychischem und existenziellem Leiden" nur schwer beantworten.

Die Gesellschaft befinde sich auf einer "schiefen Ebene", wenn ältere Menschen zunehmend vermittelt werde, "dass Altwerden eine Krankheit ist und die Therapie für existenzielle Nöte Tötung bedeutet", kommentierte die Wiener Bioethikerin Kummer diese Entwicklung, und hinterfragte: "Wann verursacht eine Anhäufung von geriatrischen Syndromen 'unerträgliches Leiden' 'ohne Aussicht auf Besserung'?" Es sei verfehlt, im Kontext von Alterseinsamkeit und Fragilität von einer "freien Selbstbestimmung" im Zusammenhang mit Suizidbeihilfe zu sprechen; angebrachter wäre die Rede von einer "prekären Selbstbestimmung", so die kirchliche Expertin.