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Die Corona-Pandemie hat eine bedenkliche Entwicklung der Gesellschaft deutlich zum Vorschein gebracht: ihren Narzissmus. Darauf hat der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller im Interview mit der Kooperationsredaktion der Kirchenzeitungen hingewiesen: "Spätestens seit der Jahrtausendwende leben wir in einer narzisstischen, selbstverliebten Gesellschaft" - in dieser Situation sei Corona "so etwas wie ein anti-narzisstisiches Virus", insofern es dem Menschen seine eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit aufzeige. Zudem werde das Problem der Vereinsamung der Menschen in modernen Gesellschaften offenbar.

Diesbezüglich biete die Krise aber auch Chancen: "Es ist wichtig, dass wir eine gewisse Widerstandskraft und Bewältigungsstrategie entwickeln" und den Zusammenhalt stärken, so Haller. Dies sei um so wichtiger, als jene Institutionen, "die eigentlich gemeinschaftsbildend sind", sich in einer Krise befänden. Dazu zählte der Psychiater Parteien und Gewerkschaften ebenso wie Kirchen. "Wichtig ist, dass wir trotz aller digitalen Möglichkeiten die Empathie - face to face - nicht zu kurz kommen lassen." Nur so könne man effektiv dem Problem der wachsenden Vereinsamung gerade auch unter Älteren entgegentreten. "Corona sensibilisiert für dieses schwierige Thema."

Vergebung statt Rache

Haller äußerte sich in dem Interview u.a. auch zum Thema seines neuen, Anfang April erscheinenden Buches "Rache" (Ecowin-Verlag). So verwies Haller, der auch als Gerichtspsychiater tätig ist, darauf, dass das Phänomen der Rache bzw. der Rachegedanken ein wissenschaftlich bislang kaum bearbeitetes Phänomen darstelle. Durchbrochen werde die "Rache-Spirale" durch den großen Antipoden, die Vergebung. Die Fähigkeit, anderen zu vergeben, sei "Ausdruck eines reifen, souveränen, gelassenen Charakters" - und sie bringe aus religiöser Sicht "das Liebesgebot radikal zur Anwendung", so Haller.

Ziel müsse es sein, "in eine kultivierte Richtung mit Kränkungen umzugehen". Dazu zähle auch, einen reifen Umgang mit Aggression und dem Bösen zu finden. Wenn man Aggression etwa kultiviere, "ist sie konstruktiv, nicht destruktiv", konstatierte der Psychiater. "Das ist unsere eigentliche Aufgabe: Das Potenzial des Bösen in positive Formen zu sublimieren."

Das Interview stellte zugleich den Auftakt zu einer siebenteiligen Serie zur Fastenzeit in den österreichischen Kirchenzeitungen dar. Ab 21. Februar wird Haller diese Serie unter dem Titel "Schuld und Vergebung" gestalten. In einem die Serie einbegleitenden Video auf der Website der Kirchenzeitungen (www.meinekirchenzeitung.at/fasten2021) unterstrich Haller u.a. die gerade in Krisenzeiten spürbare "Sehnsucht nach Liebe unter den Menschen". Da diese Sehnsucht bzw. die Zusage der Liebe ein wichtiger Aspekt der biblischen Botschaft sei, läge hierin auch ein wichtiger Beitrag der Kirchen zur psychologischen bzw. seelischen Bewältigung der aktuellen Krise - "auch für jene, die gar nicht religiös sind".