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Im Zuge des bewaffneten Konflikts in der nordäthiopischen Region Tigray reißen die Berichte von Gräueltaten und schweren Menschenrechtsverletzungen nicht ab. Weiterhin ist die Informationslage schlecht, da die Kommunikation nach außen weitgehend unterbrochen ist und Informanten aus Angst vor Repressalien anonym bleiben wollen. Wie Kathpress am Montag dennoch aus verlässlicher Quelle erfahren hat, ist die Situation weiter außer Kontrolle, anders als von der Regierung in Addis Abeba dargestellt. Knapp eine Autostunde von der Stadt Adua entfernt soll es im Jänner ein Massaker gegeben haben, im Zuge dessen zahlreiche Zivilpersonen - darunter 17 Priester - von eritreischen Soldaten "abgeschlachtet" worden sein sollen. Alle Menschen in der Region seien in großer Angst, hieß es.

Auch die Versorgungslage sei überaus prekär, so die Informanten. Das Mobilfunknetz und der Strom seien abgeschaltet und es werde immer schwieriger, den für Generatoren oder Transport nötigen Treibstoff zu bekommen. Besonders der "große Mangel an Wasser und Nahrung" mache der Bevölkerung zu schaffen, zumal die Bauern aufgrund des Konflikts die Erntesaison verpasst haben und zuvor schon die Heuschreckenplage der Landwirtschaft arg zugesetzt hat; auch würden Hilfslieferungen ihr Ziel oft nicht erreichen. "Es häufen sich Nachrichten, dass Menschen, darunter auch Kinder, an den Folgen des Hungers sterben", so die Quelle. Viele Menschen, besonders in ländlichen Regionen, hätten schon die Flucht ergriffen. Jüngste Einschätzungen eines Reporters, ihm fehlten jegliche Worte für die Beschreibung der Misere, teilten auch die Informanten.

Anhaltender Alptraum

Auch die Organisation "Kirche in Not" (ACN) schlug in der vergangenen Woche Alarm und sprach von einem "Alptraum", den Äthiopien derzeit durchlebe. Die Projektleiterin des internationalen Hilfswerks, Regina Lynch, berichtete auf der britischen Abteilung von ACN von "schrecklichen" Nachrichten all jener, die die Konfliktregion Tigray besuchen könnten. Mit Sicherheit seien in den Auseinandersetzungen bisher hunderte Zivilisten getötet worden, auch wenn niemand mit Sicherheit die Zahl der Toten angeben könne. "Uns wurde gesagt, dass Priester und Kirchenführer unter ihnen sind. Geschäfte, Schulen, Kirchen und Klöster wurden ausgeraubt und zerstört", bestätigte auch Lynch.

Hinsichtlich der Mitte Jänner in Medien aufgetauchten Berichte über ein mögliches auf November zurückdatierendes Massaker an 750 Menschen bei einem Angriff auf die orthodoxe Kirche der Hl. Maria von Zion (Maryam Tsiyon) in Aksum, laut lokaler Tradition Aufbewahrungsort der Bundeslade, gab Lynch an, es habe bisher keine Möglichkeiten gegeben, genaue Einzelheiten dazu zu verifizieren; Reisen in die Region seien derzeit nicht möglich und die Kommunikation sei sehr eingeschränkt.

Wohl gebe es aber Bestätigungen für eine Reihe von Morden und Angriffen auf unschuldige Menschen in vielen Teilen der Region, darunter auch in der Gegend von Aksum. Laut den Informationen, die ACN erreicht hätten, könnte es im Dezember weiters auch ein Massaker mit mehr als hundert Opfern in der Kirche von Maryam Dengelat sowie ein weiteres Massaker in einer Kirche in Gietelo in der Region Gulemakada mit Dutzenden Opfern, darunter auch mehrere Priester, gegeben haben. "Die Bevölkerung sei verängstigt", betonte Lynch. Tausende seien aus ihren Häusern geflohen, viele davon in den Sudan, während andere in abgelegenen Gebieten wie etwa den Bergen Zuflucht gesucht hätten - "ohne Wasser oder Zugang zu Nahrung", so die Projektleiterin.

Politisch motivierter Konflikt

Die Region Tigray mit der Hauptstadt Mekele ist die nördlichste Region Äthiopiens und grenzt an Eritrea und den Sudan. Etwa 95 Prozent der Bevölkerung sind Christen, die der äthiopischen koptisch-orthodoxen Kirche angehören und zur ethnischen Gruppe der Tigray gehören. Auch wenn der aktuelle Konflikt bereits hunderte Todesopfer unter den Christen eingefordert habe, würden die Quellen belegen, "dass die Gewalt nicht religiös, sondern politisch motiviert ist", wird seitens "Kirche in Not" hervorgehoben.

Hintergrund dürfte laut ACN sein, dass aufgrund von Covid-19 die ursprünglich für den 29. August 2020 geplanten Parlamentswahlen auf die Zeit nach der Pandemie verschoben wurden, die nationalistische Partei "Volksfront für die Befreiung von Tigray" (PFLT) jedoch unabhängig - und ohne Erlaubnis der Nationalregierung - Anfang September regionale Wahlen in Tigray organisierte, was eine politische Krise auslöste, die zu einer militärischen Intervention führte. Nachdem der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed gegen die PFLT Bundestruppen entsandt hatte - die laut Berichten von eritreischen Truppen unterstützt wurden - brachen dann im November 2020 in der nördlichen Region Kämpfe aus.

Von ACN kontaktierte Quellen hätten bestätigt, dass vor allem die Beteiligung eritreischer Truppen von Anfang an das Problem darstellen würde, da laut zahlreicher Berichte vor allem diese die Morde im Osten und Nordwesten des Tigray begehen würden. Von der Regierung werde dies allerdings geleugnet. Auch die deutsche Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hatte in der Vorwoche eine unabhängige Untersuchung von Eritreas Verwicklung in den Tigray-Konflikt in Äthiopien gefordert. "Wer Kirchen, Klöster und Weltkulturerbestätten systematisch angreift und plündert, Massaker an der Zivilbevölkerung sogar in Kirchen verübt und Vergewaltigung als Kriegswaffe einsetzt, begeht Kriegsverbrechen", erklärte GfbV-Direktor Ulrich Delius am Freitag.

Humanitäre Katastrophe

Einen offiziellen Bericht über die Lage in Tigray hatte am Dienstag der Vorwoche das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) veröffentlicht. Die Sicherheitslage sei weiter instabil und unberechenbar, mit Kämpfen besonders in der zentralen, östlichen, nordwestlichen, südlichen und südöstlichen Teilen der Region. Flüchtende Menschen seien abseits der Hauptstraßen in großer Unsicherheit, da es immer wieder zu Überfällen aus dem Hinterhalt und Angriffen mit Fahrerflucht komme, auch auf Fahrzeuge humanitärer Organisationen. Mutwillig seien humanitäre Güter veruntreut, zwei Flüchtlingslager verwüstet, und mehrere Gesundheitszentren zerstört worden. WHO-Schätzungen zufolge seien nur 22 Prozent der Krankenhäuser funktionsfähig, die restlichen seien geschlossen.

Banken, Telefon und öffentliche Verkehrsmittel gebe es zwar mittlerweile in den größeren Städten wieder, doch auch dort nur sehr eingeschränkt. Handel in und aus der Region gibt es in Tigray laut OCHA derzeit nicht, weshalb die meisten Märkte bereits zusammengebrochen seien. Es dürfte deshalb auch die Unterernährung deutlich zugenommen haben. Weil der für die Region wichtige Gereb Geba Staudamm derzeit nicht betriebsbereit sei, stelle auch die Bereitstellung sauberen Wassers ein Problem dar. Die Folgen machten sich bereits bemerkbar: So gebe es Berichte von mehreren Ausbrüchen von durch Wasser übertragene Krankheiten, darunter auch Fälle von Cholera in der Stadt Adua, was man aber bislang noch nicht bestätigen konnte.

Alarmierend sei auch die Zunahme von Berichten über sexuelle Gewalt und Übergriffen sowie von Vergewaltigungen in der Region Tigray, heißt es in dem OCHA-Report weiter. "Die meisten Opfer behaupten, dass die Übergriffe von 'Männern in Uniform' verübt wurden, manchmal auch im Austausch für Güter des Grundbedarfs." Auch von Zwangsvertreibung und erzwungener Rückkehr werde berichtet, doch könne all dies derzeit aufgrund des eingeschränkten Zugangs nicht bestätigt werden.

Der Konflikt hat zudem dramatische Folgen für die umliegenden Länder. So verzeichnete das Flüchtlingshilfswerk UNHCR zwischen 7. November und 25. Jänner 60.224 Flüchtlinge aus dem Tigray im Sudan. Ein für diese Gruppe eröffnetes zusätzliches Flüchtlingslager habe bereits die volle Kapazität erreicht, ein weiteres mit einer Kapazität von 24.000 Flüchtlingen sei errichtet worden. Bisher seien in diesen Lagern auch einzelne Fälle von Covid-19 bestätigt worden, hieß es.